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Rinder auf der Weide: Eine Trennung von der Herde verursacht erheblichen Stress.
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Rinder auf der Weide: Eine Trennung von der Herde verursacht erheblichen Stress.

Interview

Rinderschlachtung auf dem Herkunftsbetrieb

Eine hofnahe Tötung per Bolzen- oder Kugelschuss ist für die Tiere deutlich stressärmer als ein Transport zum Schlachthof, findet Expertin Dr. Veronika Ibrahim.

Dr. Veronika Ibrahim vom Hessischen Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, dass mehr Tiere auf dem Herkunftsbetrieb geschlachtet werden können. Nun vereinfacht eine neue EU-Gesetzgebung die teilmobile Schlachtung.

Liebe Frau Dr. Ibrahim, warum setzen Sie sich für die Schlachtung auf dem Herkunftsbetrieb ein?

Veronika Ibrahim: Ich habe als Amtstierärztin viel Leid in den stationären Schlachtbetrieben gesehen. Leid, dass ich nicht verhindern konnte. Zum Beispiel hat ein Betrieb vor ca. sieben Jahren bei mir beantragt, Kugelschuss auf der Weide machen zu dürfen. Ich konnte es ihm nicht erlauben, weil er die Tiere vier oder fünf Monate im Jahr im Stall gehalten hat und der Kugelschuss nur bei ganzjähriger Weidehaltung gestattet war. Das Tier musste lebend in den Schlachtbetrieb. Eine Alternative gab es damals nicht. Als junge Amtstierärztin konnte ich mir nicht vorstellen, dass es im Schlachtbetrieb schwierig wird, obwohl die Tiere sich laut Landwirt problemlos verladen lassen.

Daher habe ich mir das Verladen selbst angesehen und den Transport zum Schlachtbetrieb begleitet. In dem Fall war es ein Hereford-Bulle, der sich tatsächlich ganz lammfromm von dem Landwirt verladen ließ und nur eine halbe Stunde transportiert wurde. Bei der Ankunft im Schlachtbetrieb war er schon wie ein Kampfstier in diesem Anhänger. Durch die Trennung von der Herde und die fremde Umgebung war er so in Panik, dass er sogar den Landwirt angegriffen hat und sich weigerte, den Hänger zu verlassen.


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Der Bulle war nicht mehr zu beruhigen und wir haben fast eine Stunde gebraucht, bis wir ihn aus dem Hänger hatten. Wir konnten ihn nicht in die Falle bringen und mussten ihn im Treibgang mit einem Strick fixieren und schießen. Der Schuss musste nach einem Fehlschuss wiederholt werden, weil der Bulle auch gegen den Metzger gestoßen hat. Da habe ich mir gedacht: Wozu bin ich Tierärztin geworden, wenn ich hier so ein extremes Leiden am Tier mit beaufsichtigen muss, weil das die Rechtslage ist. Im Tierschutzgesetz steht, man darf einem Tier nicht ohne vernünftigen Grund Leiden und Schmerzen zufügen und jetzt beaufsichtige ich als Amtstierärztin so ein Drama!

Für viele Schlachttiere bedeutet es so viel Stress, von der Herde getrennt zu werden – sogar, wenn der Transport nur kurz ist. In vielen Schlachtbetrieben kommt es zu Problemen, weil die Tiere vollkommen in Angst und Panik nicht in diese Falle gehen wollen und es kommt leichter zu Fehlschüssen. Man kann nicht jedem Tier einen Transport zum Schlachthof ersparen. Aber es gibt jetzt die neue Rechtslage und man sollte die Schlachtung auf dem Herkunftsbetrieb zumindest den Landwirten und Metzgern ermöglichen, die bereit sind, den Mehraufwand zu tragen und die Auflagen zu erfüllen.

Ich denke, viele meiner Berufskollegen haben sich an die Angst der Tiere im Schlachthof gewöhnt und sehen die aus Angst aufgerissen Augen nicht mehr bewusst. Manchmal muss man auch ganz genau hinsehen, um z.B. das Freezing zu sehen, wenn die Tiere aus Angst nur ganz steif da stehen mit leichtem Fellzittern. Sieht man eine mobile Schlachtung, merkt man den Unterschied, es fällt einem wie Schuppen von den Augen. Auf dem Herkunftsbetrieb steht das Rind friedlich in der Falle oder auf der Weide und frisst noch. Den Schuss bekommt es angstfrei aus heiterem Himmel und bevor es den Knall auch nur hört, liegt es da und ist tot.

Sie haben das Pilotprojekt „Extrawurst“ zur mobilen Schlachtung begleitet. Inwiefern hat das Projekt zur neuen EU-Gesetzgebung beigetragen?

Ibrahim: Das Projekt startete 2017, wir haben einen Schlachtanhänger für die teilmobile Schlachtung entwickelt. Im EU-Recht steht, dass das Tier lebend in den Schlachtbetrieb kommen muss. Die teilmobile Schlachtung war also nur im Rahmen des Pilotprojekts möglich und indem der Schlachthof zum Rind kam. Das Mobil gehörte zu einem Schlachtbetrieb und musste komplett ausgestattet sein wie ein Schlachthof, mit Handwaschbecken, Seifenspender und einer Winde. Damit musste das Tier innerhalb von 60 Sekunden nach der Betäubung in das Mobil gezogen werden, damit man sagen konnte, es ist lebend in den Schlachtbetrieb gekommen. Sowohl aus Arbeitsschutz- als auch aus Tierschutzgründen hielten wir es für nicht vertretbar, dass das Rind zur Betäubung in den Hänger geführt werden muss. 2019 wurde das Projekt abgeschlossen mit der Erarbeitung von Standardarbeitsanweisungen und einer ausführlichen Broschüre.

Unser Projekt und das Projekt „Schlachtung mit Achtung“ wurden in Brüssel vorgestellt und ich konnte im Rahmen eines Workshops mit Betriebsführung das Extrawurstmobil und den Fixierstand wichtigen Behördenvertretern aus Deutschland und Luxemburg demonstrieren. So hat man gemerkt: Das ist machbar.

Das europäische Innovationsprojekt (EIP) „Extrawurst“ und das Projekt „Schlachtung mit Achtung“ haben mit dazu beigetragen, dass auf EU-Ebene ein Umdenken stattgefunden hat. Durch eine Delegierte Verordnung, die am 9. September 2021 in Kraft getreten ist, erlaubt nun Kapitels VIa des Anhangs III Abschnitt I Verordnung (EG) Nr. 853/2004 die Schlachtung von bis zu drei Rindern oder Pferden bzw. bis zu sechs Schweinen pro Schlachtvorgang im Herkunftsbetrieb. Voraussichtlich steht 2023 eine weitere Änderung des Gesetzes an, dann soll auch die Schlachtung von neun Schafen und Ziegen im Herkunftsbetrieb ermöglicht werden.

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Wird inzwischen häufiger auf dem Herkunftsbetrieb geschlachtet?

Ibrahim: Die neue EU-Gesetzgebung wird in verschiedenen Bundesländern unterschiedlich schnell umgesetzt. In Hessen sind wir da relativ weit, die teilmobile Schlachtung wird dort allerdings bisher nur für Rinder genutzt. Ende 2022 gab es 26 Genehmigungen mit 21 mobilen Schlachteinheiten, die teilweise von mehreren Betrieben genutzt werden. 153 Rinder wurden mit Kugelschuss im Herkunftsbetrieb geschlachtet und 108 Rinder mit Bolzenschuss.

Ich sehe da auch durchaus noch Ausbaumöglichkeiten, vor allem wenn es gelingen würde, das Fleisch mit einer entsprechenden Kennzeichnung über den Lebensmitteleinzelhandel zu vertreiben.

Ist der Kugelschuss ist nach wie vor nur für ganzjährig auf der Weide gehaltene Rinder möglich?

Ibrahim: Im EU-Tierschutzrecht steht unabhängig von Haltungsform und Tierart, dass der Schuss mit der Feuerwaffe eine legitime Betäubungsmethode ist. Die deutsche Tierschutz-Schlachtverordnung gestattet den Kugelschuss aber nur bei Rindern aus ganzjähriger Freilandhaltung. In der Agrarministerkonferenz wurde bereits im September 2022 beschlossen, dass diese Regelung entweder komplett gestrichen oder auf Rinder mit saisonaler Freilandhaltung ausgeweitet werden sollte. Hessen hat im Februar 2023 noch einmal beim Bund nachgehakt, wann dieser Beschluss umgesetzt wird.

Wir haben zudem nachgefragt, ob unabhängig von der Tierschutz-Schlachtverordnung nicht in Einzelfällen bereits jetzt der Kugelschuss genutzt werden darf. Eine vom EU-Recht abweichende nationale Regelung ist ja eigentlich nur möglich, wenn sie einen umfassenderen Tierschutz bietet, aber nicht, wenn sie weniger Tierschutz bietet. In einigen Fällen leiden die Tiere darunter, wenn man sie nicht mit Kugelschuss schießen darf.

Ein Beispiel wäre ein Hereford-Deckbulle aus einer schönen Weidehaltung, aber im Winter ist die Herde im Stall. Jetzt muss dieser schwere Bulle zum Schlachten, aber er passt gar nicht in den Fixierstand oder es ist gefährlich, ihn dort hinein zu bekommen. Zudem haben solche Tiere eine dickere Schädelplatte mit starker Bewollung, durch die es bei Gegenwehr schwierig wird, den Bolzenschuss im ersten Versuch richtig anzusetzen. Da wäre es doch besser, den Bullen mit geringerem Fehlbetäubungsrisiko draußen auf der Weide mit einer Kugel zu schießen. Ein anderer Fall sind Wasserbüffel, bei denen es häufig Fehlbetäubungen gibt, weil der Bolzen durch die sehr dicke Schädeldecke teilweise gar nicht richtig eindringt.

Wie hoch ist das Fehlbetäubungsrisiko bei der teilmobilen Schlachtung im Vergleich zum Schlachtbetrieb?

Ibrahim: Wir haben dazu in Hessen eine Umfrage gemacht: Die Fehlbetäubungsrate ist sowohl beim Bolzen- als auch beim Kugelschuss auf dem Herkunftsbetrieb niedriger als im Schlachthof. 2022 lag sie für den Bolzenschuss bei 0,9 Prozent und für den Kugelschuss bei 1,3 Prozent.

Im hessischen Leitfaden „Schlachtung im Herkunftsbetrieb“ gibt es ganz ausführliche Hinweise, wie man einen Kugelschuss durchführen kann. Diese Empfehlung ist inzwischen ausgereift – wenn man sich an die Vorgaben hält und einen erfahrenen Schützen hat, liegt die Fehlbetäubungsrate noch niedriger. Die Tiere verhalten sich deutlich ruhiger, wenn sie in der vertrauten Umgebung sind und Blickkontakt zu ihren Artgenossen haben.

Die Praktiker kommen vor allem als amtliche Tierärzte mit der mobilen Schlachtung in Kontakt. Wo sehen Sie da die Herausforderungen?

Ibrahim: Bei den amtlichen Tierärzten ist oft das Problem, dass sie genau zu dem Zeitpunkt, wo Bolzen- oder Kugelschuss stattfinden, vor Ort sein müssen, um den Entblutezeitpunkt zu bestätigen. Ich würde mir von den amtlichen Tierärzten wünschen, dass sie aus Tierschutzgründen und um dieses für die Tiere bessere, stressfreiere Verfahren zu unterstützen, versuchen, das möglich zu machen – obwohl es häufig schwierig ist, das zum Beispiel mit der Sprechstunde zu vereinbaren. Die Terminabstimmung mit dem Schützen und Tierarzt ist häufig kompliziert. Ich appelliere ein bisschen an den Idealismus der Tierärzte, dass sie diese Termine dennoch möglich machen.

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