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Die Vet-Branche hat Nachholbedarf in Sachen Digitalisierung.
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Die Vet-Branche hat Nachholbedarf in Sachen Digitalisierung.

Digitales

Tierärzte und die Digitalisierung: „Kein Generationenproblem“

Eine Branche hat Aufholbedarf: Tierärzte tun sich schwer mit der Digitalisierung, auch die jungen. Trotzdem sind bestimmte Entwicklungen nicht aufzuhalten. Was kommt? Ein Gespräch. 

Herr Knopf, Sie sind Digitalisierungsexperte aber kein Veterinärmediziner. Wie sind die mit der Branche in Kontakt gekommen?

Tobias Knopf: Stimmt. Ich habe Online-Kommunikation studiert und mich bereits im Studium als Unternehmensberater selbstständig gemacht. Vor zehn Jahren war Social Media DAS Thema in vielen Unternehmen, und noch mehr Unternehmen fehlte es an Expertise auf diesem Gebiet. Ich habe dann für die damals noch im Veterinärbereich tätige IDT Biologika die Social-Media-Kanäle mit aufgebaut und bin über den Dessauer Zukunftskreis (interdisziplinäre Arbeitsgruppe, die sich mit den Entwicklungen der Veterinärmedizin beschäftigt und versucht Lösungen und Perspektiven zu entwickeln – Anm. der Red.) mit den Tierärzten in Kontakt gekommen. So bin ich seit 2015 in der Branche aktiv und biete seit 2021 an der Veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Leipzig das Wahlpflichtfach Digitalisierung in der Veterinärmedizin an.

Ich würde sagen, die Veterinärbranche braucht weiterhin Nachhilfe im Bereich Digitalisierung.

Knopf: Das sehe ich auch so. Der Dessauer Zukunftskreis hat Anfang 2020 eine Studie ins Rollen gebracht, um den Digitalisierungsgrad der Branche zu eruieren. In diesem Zuge haben wir während des Leipziger Tierärztekongresses eine Onlinebefragung durchgeführt und festgestellt, dass sich Tierärzte, vor allem Praktiker, wenig digitale Kompetenz zuschreiben. Besonders interessant war die Erkenntnis, dass dies primär kein Generationenproblem ist, das sich automatisch lösen wird. Auch die angehenden Tierärzte und TFAs wiesen sich keine großen Kompetenzen zu. Natürlich muss eine Selbsteinschätzung immer mit Vorsicht betrachtet werden. Trotzdem sehen wir, dass Tierärzte manchen anderen Branchen fünf bis 10 Jahren hinterherhängen, was die Digitalisierung angeht.


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Rückmeldungen zeigen, dass die Auftragslage stimmt. vielleicht auch wirklich kein Bedarf?

Knopf: Könnte man meinen, jedoch ist das zu kurzsichtig gedacht. So entsteht lediglich eine immer größere Kluft zwischen dem Anspruch der Kunden und der Leistung der Praxis oder Klinik. Die digitale Entwicklung ist nicht aufzuhalten – auch nicht durch Angst oder Desinteresse. Woran es Tierärzten oft fehlt ist Zeit. Zeit für den einzelnen Patienten, für Gespräche mit den Besitzern. Denn diese sind die zahlenden Kunden und müssen mit Empathie abgeholt werden. Letztendlich haben Tierärzte nicht nur Verantwortung für Patienten, sondern auch für Mitarbeiter und sich selbst. Dinge, an denen einige Praktiker arbeiten sollten sind deshalb Zeitmanagement und Kommunikation. Zeit könnten Praxisinhaber gewinnen, wenn Abläufe im Praxisalltag automatisiert oder zumindest technisch unterstützt würden. Zudem bietet die Digitalisierung Chancen für weitere Einnahmequellen, zum Beispiel über telemedizinische Konsultationen, die Kunden auch große Mehrwerte bieten können.

Mit was für Entwicklungen müssen oder dürfen Tierärzte denn rechnen?

Knopf: Es wird immer mehr darum gehen, sogenannte Kundenreisen zu kreieren, die über die bloße Behandlung des Tieres hinausgeht – mit Online-Terminvergabe, Patienten-Apps und Co. Insgesamt wird der Beruf durch technologische Komponenten ergänzt werden, die sowohl die Kommunikation mit Kunden als auch die Arbeit am Tier verändern. Es gibt Kliniken, wie zum Beispiel die Tierklinik Germersheim, die mit 3D-Druck maßangefertigte Implantate und Prothesen fertigt. Auch komplexe Maschinen, die operative Eingriffe steuern und präziser arbeiten als Menschen, sind in der Humanmedizin bereits im Einsatz und werden auch in die Tiermedizin verstärkt an Relevanz gewinnen. Das ist auch gut so. Aus meiner Sicht ist es nicht die Kernkompetenz des Tierarztes ein Skalpell besonders ruhig halten zu können, sondern verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Das wird sich durch die Digitalisierung vorerst nicht ändern. Aber Entscheidungsfindungen können auch durch „Künstliche Intelligenzen“ (KIs) wie das derzeit omnipräsente ChatGPT unterstützt werden. Dabei handelt es sich um ein Computerprogramm, das wie ein virtueller Gesprächspartner agiert, Fragen beantworten kann und Problemlösungen bereitstellt. Solche KIs könnten, wenn sie für den professionellen Einsatz angepasst werden, Tierärzte nutzen, um eine Zweitdiagnose einzuholen.

In meinem Wahlpflichtkurs experimentieren die Studenten und ich häufiger mit solchen KIs und stellen fest, dass selbst die frei verfügbaren Varianten schon jetzt oft richtige Diagnosen stellen können. Studien haben sogar gezeigt, dass diese Programme empathischere Antworten geben können, als Menschen.

Telemedizin noch wenig genutzt

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Knopf: Grundsätzlich können auch Tierbesitzer die KI zum Krankheitsbild ihres Hundes befragen, das stimmt. Wobei ChatGPT grundsätzlich solche Informationen nicht preisgibt und darüber informiert, dass sie kein Tierarzt ist und auch keinen Tierarztbesuch ersetzt. Solche Programme müssen natürlich auch den rechtlichen Rahmen einhalten, der sicherlich in der Zukunft noch spezifischer definiert werden wird. Trotzdem kann man die KI austricksen und sie dazu bringen, die Informationen bereitzustellen. Meiner Erfahrung nach suchen Menschen immer nach eigenen Lösungen, wenn man ihnen keine befriedigende Alternative anbietet. Wenn mein Hund am Freitagabend um 22:00 Uhr ein auffälliges Verhalten zeigt, möchte ich sofort Antworten. Bietet mein Tierarzt keine Lösung, suche ich sie an einer anderen Stelle des Internets. In vielen Fällen handelt es sich um keine ernsthaften Erkrankungen und ein kurzes Erstgespräch mit einem Tierarzt oder einer KI, kann bereits Hilfe leisten. Es liegt an der Branche professionelle Lösungen zu entwickeln, die für alle Beteiligten zufriedenstellende Behandlungen, Betreuungen und Arbeitsbedingungen ermöglichen. Von daher müssen Tierärzte mit der Zeit gehen, sich für digitale Entwicklungen öffnen, auch wenn es sie nicht nur vor Chancen, sondern auch Herausforderungen stellt.

Wird Ihnen im Angesicht all dieser Entwicklungen manchmal mulmig zumute?

Knopf: Ja und nein. Auch für mich ist die Vorstellung fremd, dass Roboter z.B. pflegende Tätigkeiten übernehmen. Auf der anderen Seite sehe ich jedoch viele Chancen und sage das auch den Tierärzten: Da steckt viel Potenzial drin, produktiver zu werden, sich auf die Arbeit konzentrieren zu können, die auch den Tierärzten mehr Freude bereitet und eine bessere Leistung anzubieten. Auch TFAs könnten entlastet werden und sich noch mehr den Kunden zuwenden. Für mich sind sie die wichtigsten Mitarbeiter in Kliniken und Praxen, denn sie beeinflussen maßgeblich die Stimmung der Kunden und damit das Arbeitsklima des Tierarztes und den Erfolg des Unternehmens.

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Hat die Corona-Pandemie etwas an der Lage verändert?

Knopf: Das zu untersuchen wäre interessant.  Ich hoffe die Wissenschaftsgemeinschaft wird zukünftig einen objektiven Vergleich ziehen können. Wenn Sie mich fragen, ich denke es hat sich einiges bewegt und einige Praktiker sind aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Aber die Digitalisierung hat auch an Geschwindigkeit gewonnen. Somit besteht immer noch eine Kluft.

Sind das die Kliniken von morgen?

Unter dem Namen „Modern Animal“ werden in Los Angeles und San Francisco elf Kliniken geführt, die in ihrer Firmenphilosophie nicht in erster Linie das Tier in den Mittelpunkt stellen, sondern den Menschen. Die sogenannte „human focused veterinary company“ legt ihren Fokus auf das medizinische Personal sowie die Tierhalter. Die Idee: Geht es Tierarzt und Besitzer gut, hilft das auch dem vierbeinigen Patienten in bester Weise.

Die Kliniken verfolgen hierbei ein interessantes Business-Modell: Um die Services der Standorte nutzen zu können, brauchen Tierbesitzer eine Membership. Diese funktioniert demnach wie eine Eintrittskarte in die Klinik-Standorte und verspricht dem Halter eine 24/7 Erreichbarkeit über Chat und Telefon sowie eine telemedizinische Erstkonsultation bei Bedarf. Allgemeinuntersuchungen und Notfallbehandlungen sind in der Vollversion der Mitgliedschaft (Kosten 199 US-Dollar/Jahr) ebenfalls abgedeckt, außerdem bekommen die Kunden 10 Prozent Rabatt beim Kauf von Produkten der Klinik. Darüberhinausgehende Untersuchungen müssen extra bezahlt werden. Termine buchen Tierbesitzer über eine App, welche sie auch an Impfungen und vereinbarte Termine erinnert. Laut Knopf ist so ein Modell auch in Deutschland denkbar: „Alles was die Amerikaner machen, kommt potenziell auch zu uns“, so der Digitalisierungsexperte. 

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