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Schwieriger Berufseinstieg: Tierärztinnen, die heute Ende 30 und älter sind, kehrten der Praxis oft desillusioniert den Rücken.
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Tierärztinnen, die heute 40 und älter sind, akzeptierten beim Berufseinstieg oft schwierige Arbeitsbedingungen.

Tierarztmangel

Die vergessene Generation X in der Tiermedizin

Alle sprechen von den „Millennials“ und davon, was man ihnen bieten sollte, um sie als Fachkräfte zu binden. Doch erste Analysen erhellen auch die Situation der etwas Älteren, der 40- bis 60-Jährigen unter den Tierärzten.

Ihre Jugend war geprägt von den Folgen der Ölkrise der 1970er Jahre, die sich weltweit auf die Wirtschaft auswirkte und in Deutschland langfristige Arbeits- und Perspektivlosigkeit für viele Gruppen auslöste. Zugleich waren die 1980er-Jahre die Zeit der „Yuppies“ und Statussymbole; die frühe Umweltbewegung traf damals auf eine noch ungetrübte Konsumfreude. Statt Smartphone und Instagram hatten für damalige Jugendliche allerdings Videorekorder und Musikkassetten große Bedeutung. Gerade noch Kinder oder kaum erwachsen, erlebten sie den Fall des „Eisernen Vorhangs“ und die Wiedervereinigung.

Die Rede ist von der „Generation X“, einer Alterskohorte, zu der man in der Regel die Geburtsjahrgänge 1965 bis 1981 zählt. Vor den Angehörigen der Generation X kamen die „Baby-Boomer“ (geboren zwischen 1956 und 1964) zur Welt, nach ihnen betraten die „Millennials“ (Geburtsjahrgänge ab etwa 1982) die Bühne. Jene noch sehr jungen „Millennials“, die man manchmal auch noch unterteilt in Generation Y und Z, beschäftigen Headhunter und Personalverantwortliche in den vergangenen Jahren besonders – auch in der Tiermedizin. Auf den Podien der Kongresse diskutiert man längst nicht nur darüber, wie sich die tierärztliche Arbeitswelt attraktiv für die jüngsten Fachkräfte gestalten lässt, sondern auch über das, was in eine digitale Welt hineingeborene Patientenbesitzer beispielsweise erwarten. 

Aufgewachsen mit Walkman und „Alf“

Vergessen scheinen angesichts all der Bemühungen um die jüngsten Berufseinsteiger oft die etwas älteren Tierärztinnen und Tierärzte. Doch vor ihnen liegen auch noch bis zu drei Jahrzehnte im Beruf. Ein näherer Blick auf diejenigen, die mit Walkman und der Fernsehserie „Alf“, mit dem Gesellschaftsspiel „Trivial Pursuit“ und der „Lehrer- und Ärzteschwemme“ aufgewachsen sind, könnte sich deshalb lohnen. Was erwarten sie von einem Berufsleben als Tierärztin oder Tierarzt? Wie lassen sie sich als Arbeitskräfte gewinnen und binden? Welche Erfahrungen prägen diese Berufsangehörigen, welche Werte vertreten sie, welche Haltung zum Leben und Arbeiten tragen sie ins Team?


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Allgemein gilt, dass die Generation X dem Leben pragmatisch und realistisch gegenübersteht, manchmal auch skeptisch oder gar desillusioniert. Sie ist eine an materieller Sicherheit interessierte und zudem auch karriereorientierte Alterskohorte – so viel weiß die Generationenforschung über alle Branchen hinweg über die etwa 40- bis fast 60-Jährigen. Studien, die sich speziell auf die Generation X in der Tiermedizin konzentrieren, sind allerdings rar. Erste Erkenntnisse skizzierte ein Team um die amerikanische Tiermedizinerin Lisa Freeman vor vierzehn Jahren in einer Studie im „Journal of Veterinary Medical Education“, für die Lehrende und Assistenztierärzte der Baby-Boomer-Generation und der Generation X befragt und verglichen wurden.  Freeman und ihre Kollegen nahmen in die Studie Mitarbeitende ihrer Universität auf, der Tufts Cummings School of Veterinary Medicine in Massachusetts. Bei den 38 Lehrenden dominierten die Baby-Boomer, während alle befragten Assistenztierärzte – insgesamt 45 Personen – zur Generation X gehörten.

Der auffälligste Unterschied zwischen den Gruppen war, dass die ausschließlich aus Angehörigen der Generation X bestehende Gruppe der Assistenztierärzte kritisches Feedback in einem regelmäßigeren, höher frequenten Turnus erwartete, als es bei den meist älteren Lehrenden der Fall war. Freeman und ihre Kollegen bilanzieren aber auch, dass Arbeitgeber für künftige Generationen mehr Bewusstsein für Work-Life-Balance und passende Belohnungssysteme entwickeln müssten. Beide Generationen hatten zu Protokoll gegeben, dass die wichtigsten nicht-finanzielle Belohnungsanreize für sie in Freizeitausgleich und Anerkennung für ihre Arbeit bestehen. 

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Auch Stefanie Stock, Klinikmanagerin der Tierklinik Ismaning in München, bestätigt, dass wissenschaftliche Untersuchungen zur Generation X im Tierarztberuf im Moment noch kaum vorhanden sind. Die Politologin und Betriebswirtin Stock hat sich für ein Online-Seminar, das sie Ende 2022 für die Bayerische Landestierärztekammer gestaltet hat, mit den unterschiedlichen Generationen in der Tiermedizin beschäftigt. „Fachkräfte der Tiermedizin der Generationen X, Y und Z gewinnen“ lautete der Titel ihrer Veranstaltung. „Generation X ist ja ein weiter Begriff“, sagt Stock. „Die 45-Jährigen gehören dazu, aber auch diejenigen, die in zehn Jahren in den Ruhestand gehen.“ Auch andere Generationenforscher haben sich schon daran gestört, dass die Alterskohorten, von denen man im Allgemeinen spricht, so breit gefasst sind. Auch „Zwischengenerationen“ wurden schon zu eigenen Gruppen zusammengefasst, um die Unterschiede, die es innerhalb einer Generation gibt, zu würdigen: Die von 1977 bis 1985 Geborenen werden bisweilen als „Xennials“ bezeichnet, um deutlich zu machen, das sie zwar wie die Älteren der Generation X in eine analoge Welt hineingeboren, aber dann noch relativ früh in ihrem Leben von digitalen Technologien geprägt wurden.

Für Stefanie Stock gibt es vor allem eine Erfahrung, die für die gesamte Generation X in der Tiermedizin prägend gewesen ist: ein schwieriger Berufseinstieg, der kaum etwas mit den Bedingungen gemein hatte, unter denen heutige Studienabsolventen in die Branche starten. Zeitzeugenberichte, wie sie etwa die Tierärztin Bettina Maurer 1997 in ihrer Dissertation „Frauen in der Tiermedizin“ aufzeichnete, bestätigen diesen Eindruck: Viele der von Maurer befragten Frauen, die bis Ende der 1980er Jahre Examen machten, berichteten, dass sie nur nach langem Suchen eine Stelle finden konnten. Und auch eine spätere Studie, die Dissertation von Bettina Friedrich an der Tierärztlichen Hochschule Hannover aus dem Jahr 2007, die Gehälter und Arbeitsbedingungen angestellter Tierärzte untersuchte, zeigte auf, dass Anfang des Jahrtausends junge Tierärzte einiges bereit waren zu akzeptieren: etwa extrem geringe Gehälter, unbezahlte Notdienste oder Arbeitstage ohne Pausen.

„Die Angehörigen der Generation X mussten sich einen Job suchen, den wenigsten wurde eine Stelle vor die Füße gelegt“, erklärt Stock. „Das ist jetzt komplett anders, auf dem Arbeitsmarkt hat sich ja viel geändert. Wir befinden uns jetzt in einer Fachkräftemangelsituation und haben noch immer nicht den Gipfel erreicht.“ In dieser Situation werden die Bedürfnisse und Wünsche der Mitarbeitenden naturgemäß stark berücksichtigt – auch wenn sie etwa im Fall der „Millennials“ tiefgreifende Änderungen für den Alltag in der kurativen Tiermedizin mit sich bringen, denn die Generation misst ihrer Freizeit hohen Wert zu und tritt mit Nachdruck für geregelte Arbeitszeiten ein. Auch einen neuen Führungsstil mit regelmäßigem Feedback erwarten die jüngsten Arbeitnehmer.

Klare Grenzen

In der Kleintierklinik in München, in der Stock für die Personalentwicklung zuständig ist, arbeiten ebenso wie in vielen anderen Tierkliniken mehrere Generationen nebeneinander: Baby-Boomer, Generation X und die Millennials. „Die Millennials mit ihrer Einstellung zum Leben und Arbeiten verändern dabei auch die Generation X“, erklärt Stock. „Wenn die Jüngeren ganz klare Grenzen ziehen, um eine gute Work-Life-Balance zu erreichen, dann färbt das auch auf die Generation X ab und sie verändert auch ihren Blickwinkel und ihre Ansprüche.“

Die Politologin hat auch eine Vermutung, warum im Moment noch so wenig bekannt ist über die Tierärztinnen und Tierärzte der Generation X, warum sie nicht aktiv beforscht oder auf Podien thematisiert werden: „Die jüngeren Generationen fordern die Arbeitgeber mit ihren Ansprüchen an ihr Arbeitsleben einfach noch mehr. Im Vergleich dazu ist die Generation X noch sehr kompromissbereit. Sie stellt das Privatleben beispielsweise nicht so deutlich über den Beruf, sondern sucht eher nach einem ausgewogenen Verhältnis zwischen beidem.“ 

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Arbeiten, um zu leben

Lohnend ist angesichts des Studienmangels auch der Blick auf die Forschungslage in der Humanmedizin. Die Ziele und Werte einzelner Alterskohorten und die Zusammenarbeit der Generationen im Krankenhaus sind hier schon mehrfach analysiert worden. In dem Beitrag „Arbeitsplatz Krankenhaus: Vier Generationen unter einem Dach“ von Christian Schmidt, Johannes Möller und Peter Windeck im „Deutschen Ärzteblatt“ wurde beispielsweise schon vor zehn Jahren herausgearbeitet, welche Forderungen die einzelnen Generationen an den Führungsstil in Kliniken stellen. Generation X erwartet demnach „eine zielorientierte und pragmatische Führung“. Konflikte unter Kolleginnen und Kollegen scheue die Generation X nicht so sehr wie andere Alterskohorten. Daher seien für sie „eine klare Kommunikation von Erwartungen und Zielen wichtig“.

Besonders pointiert stellen die Autoren die drei verschiedenen Arbeitsmotti der Baby-Boomer, der Generation X und der Millennials/Generation Y gegenüber: Während die Baby-Boomer nach dem Motto „Leben, um zu arbeiten“ morgens aus dem Bett steigen, gilt für die Generation X: „Arbeiten, um zu leben“. Die jüngsten Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus hingegen wünschen sich „Leben beim Arbeiten“.

Mehr über die Generation X im Tierarztberuf, deren Erfahrungshintergrund und mögliche Ursachen für den Ausstieg vieler Tierärztinnen dieser Altersgruppe aus der kurativen Tiermedizin erfahren Sie in der aktuellen Ausgabe 2/2023 von „Der Praktische Tierarzt“. Hier geben weitere Branchenkenner zudem einen Einblick, welche Möglichkeiten sie sehen, um die Generation X wieder vermehrt zurück in die Praxis zu holen.

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