Deutscher Tierärztetag

Tierärztemangel: Quo vadis, Tiermedizin?

Um die Zukunft des Berufes zu sichern, möchten die Delegierten des 29. Deutschen Tierärztetages den Nachwuchs begeistern und Arbeitsbedingungen verbessern

  • Mitte September 2022 trat in Berlin der 29. Deutsche Tierärztetag zusammen. Einer der vier Arbeitskreise beschäftigte sich mit der Zukunft des Berufs angesichts des zunehmenden Tierärztemangels.
  • Als eine der Ursachen für den Tierärztemangel identifizierten die Delegierten den gesellschaftlichen Wandel, dem sich der Berufsstand stellen müsse.
  • Die Delegierten stellten konkrete Forderungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und notwendigen Änderungen in der Lehre.
  • Längst ist der Tierärztemangel nicht mehr nur ein Problem des ländlichen Raums. Auch für städtische Kleintierpraxen ist die Suche nach neuen Mitarbeitern zu einer großen Herausforderung geworden und mancherorts können Notdienste nicht mehr gewährleistet werden. Selbst in Laboren oder auf dem Schlachthof gibt es inzwischen offenbar eine handfeste Krise. Fehlen Tierärzte mit ihrer Expertise, macht sich das in vielen Bereichen bemerkbar.

    Auf dem Deutschen Tierärztetag in Berlin beschäftigte sich ein Arbeitskreis allein mit diesem brennenden Thema. Die Sorge, was die Zukunft bringt, ist groß. Denn wird dieser Trend nicht gestoppt, geraten das Staatsziel Tierschutz und damit auch der Gesundheitsschutz für uns Menschen zunehmend in Gefahr – so die einhellige Meinung auf der Delegiertenversammlung. 

    Gesellschaft im Wandel

    Aber woran liegt es, dass wir derzeit eine tierärztliche Versorgungskrise spüren? An der gestiegenen Zahl gehaltener Tiere? Daran, dass mehr Kollegen in Rente gehen als Nachwuchs folgt? Sind es die Arbeitsbedingungen, die nicht passen, oder läuft vielleicht schon beim Studium etwas falsch?

    Sicher spielt alles eine Rolle. Aber auch ein weiterer wichtiger Faktor darf nicht vergessen werden: der gesellschaftliche Wandel. Gesellschaft ändert sich – ständig und in vielerlei Hinsicht. So ist die Mensch-Tier-Beziehung heutzutage eine ganz andere, die Vereinbarkeit von Familie, Freizeit und Beruf (Work-Life-Balance) hat heute einen größeren Stellenwert und nicht zuletzt führen Veränderungen wie das formulierte Staatsziel Tierschutz und der als Bedrohung empfundene Klimawandel zu einem Umdenken in der Gesellschaft, gerade bei jungen Leuten. Das ist unter Tierärzten und Tierärztinnen nicht anders als in anderen Berufsgruppen. „Der Nachwuchs ist städtisch, weiblich, vegan und tierliebend“, so lautete die plakative These im Vortrag der Nutztierpraktikerin Laura Darracott. Und diesem Wandel muss sich der tierärztliche Berufsstand stellen. Nur wer die Realität wahrnimmt, kann vorhandene Strukturen kritisch überdenken und durch konstruktive Änderungen anpassen.

    Die Zukunft des tierärztlichen Berufsstandes ist weiblich

    Die hohe Frauenquote im Studienfach Tiermedizin ist keine neue Entwicklung und spiegelt sich so auf dem Arbeitsmarkt wider, wo Frauen auch in der Nutztierpraxis längst eine Selbstverständlichkeit sind. Aber Frauen haben, wie es Severine Tobias von der Tierärztekammer Niedersachsen in ihrem Vortrag treffend formulierte, häufig ein Arbeitszeitfensterproblem. Gerade im mittleren Lebensabschnitt, der familiär geprägten Phase, sind – nicht nur, aber besonders – Frauen mit erhöhten und vielfältigen Anforderungen konfrontiert, was sie vor ein arbeitszeitliches Problem stellen kann. Um hier möglichst keine Arbeitskräfte für den Arbeitsmarkt zu verlieren, braucht es demnach intelligente Arbeitszeitmodelle und gute Wiedereinstiegsmöglichkeiten.

    Arbeitsbedingungen verbessern

    Eine der Forderungen des Arbeitskreises lautete daher auch, flexibel gestaltete Arbeitszeiten zu ermöglichen. Verbesserungswürdig sind die Arbeitsbedingungen aber auch an anderen Stellen: Neben einer verlässlichen Kinderbetreuung, Aufstiegsmöglichkeiten und einem Angebot an psychologischer Unterstützung wurden eine adäquate Entlohnung, Nacht- und Notdienstzuschläge, Arbeitszeitausgleich oder Lohnzusatzleistungen gefordert. In diesem Zusammenhang wurden auch Tarifverträge in den Forderungskatalog aufgenommen. Für viele der Anwesenden wären sie ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

    Um die Notdienstproblematik nicht weiter zu verschärfen und das aktuelle Kliniksterben zu befördern, sollte es nach Ansicht der Delegierten – analog zur Humanmedizin – auch in der Veterinärmedizin Ausnahmemöglichkeiten im Arbeitszeitgesetz geben. Zudem sollten Praxen ab einer bestimmten Größe zum 24-h-Notdienst verpflichtet werden. Laut Forderungen soll das Praxen betreffen, die auf 20 bis 25 Vollzeitstellen kommen – Mitarbeiter in Teilzeit mit eingerechnet. Damit wäre es dann auch gleichgültig, ob es sich um eine Klinik oder ein Tiergesundheitszentrum handelt.

    Die Diskussion zeigte nochmals deutlich: Die tägliche Arbeit in einer Praxis geht in der Regel weit über die rein tierärztliche hinaus und sollte erleichtert oder zumindest entschlackt werden. So darf der Bürokratieberg nicht noch weiter wachsen, müssen Arbeitsprozesse optimiert und die Digitalisierung weiter vorangetrieben werden. Die Aufgabenverteilung innerhalb einer Praxis muss neu überdacht werden. Dazu gehört auch, dass Kompetenzen im Team erweitert oder neu verteilt werden, hierzu zählt bspw. auch das Einführen neuer Positionen, wie die des Praxismanagers, den es bereits in vielen größeren Praxen gibt.

    Studium: Curriculum, Studienplätze und Auswahlverfahren

    Praxismanagement, betriebswirtschaftliche Kenntnisse und Schlüsselkompetenzen wie Kommunikationsfähigkeit, Führungskompetenzen oder auch die sogenannten Life Skills sind Fähigkeiten, die Tierärzte im praktischen Beruf benötigen, die aber leider immer noch nicht ins Curriculum aufgenommen wurden. Dabei wäre dies eine wichtige Vorbereitung auf das spätere Berufsleben, genau wie ein gutes Praktikum. Um die Chancen bei der Suche nach einem guten Praktikumsplatz zu erhöhen, schlug der Arbeitskreis vor, für Praktikumsbetriebe eine Aufwandsentschädigung einzuführen.

    Da es für die Tiermedizin noch immer mehr Studienbewerber als -plätze gibt, könnte man dem Mangel an Tierärzten auch damit begegnen, mehr Studienplätze zu schaffen. Dies würde womöglich auch den „Verlust“ durch Teilzeitbeschäftigte kompensieren. Zudem sollte beim Auswahlverfahren die Eignung für den Beruf im Vordergrund stehen.

    Bild des Tierarztes in der Öffentlichkeit

    Schließlich sollte der Blick, den die Gesellschaft auf den Tierarzt hat, noch einmal kritisch hinterfragt werden. Zu realitätsfern und vereinfacht erscheint das Bild, was die Gesellschaft gemeinhin vom tierärztlichen Beruf hat. Das Bild der lächelnden Tierärztin mit dem niedlichen Hund auf dem Arm ist viel zu simpel und eindimensional. Dabei ist gerade der Beruf des Tierarztes so facettenreich und vielfältig. „Öffentlichkeitsarbeit“ – gerne mit professioneller Unterstützung – lautet daher auch eines der wichtigen Stichwörter der in Berlin geführten Diskussion. Proaktiv, so der Wunsch, sollte das Berufsbild mit all seinen Facetten und Möglichkeiten nach außen getragen werden, damit ein realitätsnahes Bild entsteht.

    Diese Arbeit muss nicht allein von Kammern, Standesvertretungen oder Verbänden übernommen werden, auch Praktiker können hier einen wertvollen Beitrag leisten, wenn sie bspw. auf Social-Media-Kanälen Laien informativ am spannenden Praxisalltag teilhaben lassen. Der Benefit eines in der Öffentlichkeit gefestigten, differenzierteren Bildes könnte sich am Ende – so erhofft man sich – gleich in verschiedenen Bereichen zeigen: Die allgemeine Wertschätzung für tierärztliche Leistungen könnte auf diese Weise erhöht werden, Studieninteressierte könnten schon vor Studienbeginn eine genauere Vorstellung bekommen, was sie später in der Berufswelt erwartet. Und möglicherweise wäre dies auch schon ein erster Schritt, um die tierärztliche Fachkompetenz noch mehr in der Politik zu implementieren. Denn nur wer sichtbar ist, wird auch gehört!

    Mehr zum Thema:

    In der Berliner und Münchener Tierärztlichen Wochenschrift wurden die Ergebnisse einer Befragung angestellter Tierärzte und Tierärztinnen zu Arbeitsbedingungen und Arbeitszufriedenheit publiziert. 

    Das Curriculum des Veterinärmedizin-Studiums braucht neue Schwerpunkte: Ebenfalls in der Berliner und Münchener Tierärztlichen Wochenschrift wurden die Ergebnisse einer Umfrage zur Relevanz von Studienfächern publiziert.

    Zum vollständigen Artikel: hier