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Diesem Feldhasenjungtier wird in Menschenhand geholfen. Laien können jedoch oft nicht einschätzen, ob Wildtiere wirklich in Not sind.
Foto: Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung, TiHo Hannover
Diesem Feldhasenjungtier wird in Menschenhand geholfen. Laien können jedoch oft nicht einschätzen, ob Wildtiere wirklich in Not sind.

Hasen, Dachse & Co.

Wildtiere – rasch gerettet, oft verkannt

Die Auffangstationen sind voll, viele Tierarztpraxen zeitlich und räumlich überfordert – und die Bevölkerung lässt sich von Emotionen leiten, wenn es um Feldhasenjunge, Ästlinge und Fuchswelpen geht.

Eine Reihenhaussiedlung im Vorort einer deutschen Großstadt, die Häuserfronten zum Verwechseln ähnlich, die Gärten schmal wie Handtücher. Wenn eine Familie aus dieser Siedlung die Begegnungen mit Wildtieren innerhalb des vergangenen Jahres bilanziert, zeigt das die ausgeprägte Hilfsbereitschaft der Bevölkerung gegenüber der heimischen Fauna – aber auch große Hilflosigkeit: Im März tauchte immer wieder ein Eichhörnchen vor dem Wohnzimmerfenster auf, die Kinder warfen Walnüsse hinaus, um es zu unterstützen. Im Juli fiepte eine Spitzmaus unter einem Busch nahe der Terrasse, ihr wurden ein Schälchen Wasser und ein Sonnenschutz angeboten. Im September flog eine Amsel gegen eine Fensterscheibe im ersten Stock, stürzte auf den Bürgersteig vor der Haustür und verstarb. Im Oktober fiel beim letzten Rasenmähen des Jahres ein Igel auf, man überlegte und googelte: Brauchte er Hilfe? Sollte man ihn füttern?

Während man im Reihenhaus noch im Privaten über den Umgang mit Wildtieren debattierte, begann Mitte 2022 eine öffentliche Diskussion über das Thema an der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo): der „Wildtierdiskurs“, ein auf 15 Monate angelegtes Projekt, das sich aus Vortragsveranstaltungen, Podiumsdiskussionen und Forschungsvorhaben zusammensetzt und noch bis zum Sommer 2023 läuft, vollständiger Titel: „Der Ruf der Wildnis? Mensch und Wildtier in urbaner Umgebung – Interaktionen und (un-)gewünschte Folgen“. Erklärte Ziele des Projektes: Impulse aus Wissenschaft und Praxis bereitstellen, Akteure vernetzen, Forschungsprojekte anstoßen. Im Mittelpunkt steht die Interaktion zwischen Bürgern und Wildtieren im urbanen Bereich, wo Mensch und Fauna einander immer näher rücken.

Emotionale Diskussionen

„Wir waren teilweise überrascht über die Emotionalität der verschiedenen beteiligten Gruppen und der Debatte selbst, aber wir haben viele Ansatzpunkte gefunden, die man in die Praxis übertragen kann“, zieht Prof. Dr. Michael Pees, Leiter der Klinik für Heimtiere, Reptilien und Vögel der TiHo, jetzt eine erste Bilanz des Projektes. Pees und Prof. Dr. Ursula Siebert, Leiterin des Instituts für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung der TiHo, sind die Initiatoren des Projektes, das als Teil der niedersächsischen „Zukunftsdiskurse“ durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur und die VolkswagenStiftung gefördert wird.


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Der lange geplante Wildtierdiskurs kam zum richtigen Zeitpunkt, um die dramatische Entwicklung der jüngeren Vergangenheit aufzuarbeiten: Durch die Lockdowns der Pandemie habe es deutlich mehr Begegnungen zwischen Menschen und Wildtieren als zuvor gegeben, sagt Michael Pees. „Die Menschen waren viel mehr in der Natur“, erklärt er. „Allein in unserer Klinik ist die Zahl der angelieferten Wildtiere dadurch um 50 Prozent gestiegen. Das Gleiche sagen viele Wildtierauffangstationen.“

Markige Sätze fielen

Und die Verantwortlichen in diesen Einrichtungen, die in der Regel privat geführt sind, sagen noch viel mehr. Markige Sätze fielen schon bei der Auftaktveranstaltung des Wildtierdiskurses im Spätsommer 2022. „Gerettet wird alles, was nicht bei drei auf dem Baum ist“, wurde ein Eindruck bewusst überspitzt formuliert. Die Entfremdung der Bevölkerung von Natur und Wildtierfauna bringt absurde Situationen, schwierig zu lösende Konflikte und gravierende Probleme für Tier- und Naturschutz hervor, soweit war man sich einig.

Ein „Retten auf Biegen und Brechen“ beobachtet beispielsweise Stefanie Huck, Leiterin der Wildtierstation Retscheider Hof in Bad Honnef und eine der Referentinnen des Hannoveraner Diskurses. „Die Erwartungshaltung der Menschen, die ein Wildtier finden, ist: Es muss überleben“, sagt Huck. „Diese Anspruchshaltung ist ein Kernthema für uns in den Wildtierstationen. Viele Finder möchten, dass einem Fuchs beispielsweise das schwer verletzte Bein amputiert wird, damit er noch im Gehege leben kann. Die Menschen nehmen auch einen Fuchswelpen mit, der gar nicht in Not ist, nur, damit der Jäger ihn später nicht schießt.“ In den Großstädten fällt es vielen Menschen immer schwerer, echte Hilfebedürftigkeit von bloßer Sichtbarkeit der Tiere zu unterscheiden. So werden Jungvögel etwa oft als verwaist wahrgenommen, weil sie auf dem Boden sitzen – dabei haben die Tiere in der Ästlingsphase ihr Nest zwar verlassen, sind jedoch keineswegs elternlos.

Das Ziel: die Wiederauswilderung

Aber selbst, wenn ein wirklich hilfebedürftiges Tier der Wildnis entnommen wird, ergeben sich Probleme. „Die Finder begehen häufig schon beim Aufnehmen eines Wildtieres einen Gesetzesverstoß, spätestens dann bei der längerfristigen Versorgung“, sagt Pees. Tier- und Artenschutzgesetzgebung spielen hier eine Rolle. Geht es um Tierarten, die dem Jagdrecht unterliegen, muss der Jagdausübungsberechtigte hinzugezogen werden. „Ich übernehme, wenn ich ein Tier aus der Natur entnehme, auch die Verantwortung“, erläutert Pees. „Wir müssen die Bevölkerung aufklären, dass ein Wildtier immer ein Wildtier ist und kein Familienmitglied. Man muss Entscheidungen bei einem Wildtier immer sachlich treffen. Was ist das Ziel, wenn ich einem Wildtier helfe? Aus unserer Sicht muss das immer die Wiederauswilderung sein.“ Nur für den Zeitraum der Genesung eines kranken oder verletzten Tieres ist es letztlich zulässig, es vorübergehend aufzunehmen und zu pflegen.

Dies ist häufig der Moment, in dem Finder auf Tierärzte zukommen. Oft geht es dann nicht nur um eine medizinische Behandlung, sondern auch um die Aufzucht; Räumlichkeiten und die Personaldecke reichen bei kleineren Praxen oft nicht aus, auch die Finanzierung wird zur Streitfrage. An Michael Pees’ Klinik in Hannover ergaben sich 2021 im Schnitt Behandlungskosten von 171 Euro pro Wildtier. Eine Studie des Wildtierdiskurses zeigte, dass die überwiegende Mehrheit der befragten Bürger bereit wäre, beim Fund eines hilfebedürftigen Wildtieres zwischen 10 und 100 Euro für Tierärzte oder Auffangstationen auszugeben.

Ungeklärte Finanzierung

Die Finanzierung ist nicht nur das Problem der Tierarztpraxen, sondern auch der gegenwärtig übervollen Auffangstationen, die sich in der Regel durch Privatvermögen und Spenden finanzieren. In der Dezemberveranstaltung des Wildtierdiskurses gab Dr. Gabriele Doil, Veterinäroberrätin bei der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover, einen Überblick über die Situation der Wildtierhilfe in Deutschland – ein föderaler Flickenteppich. Ein Fazit des Vortrags: Das Angebot an Tierschutz- und Artenschutzvereinen sei groß, die Qualität aber lasse sich nicht immer verifizieren.

Dabei erscheinen Standards und Prüfungen nach den Diskussionen des Hannoveraner Projekts eigentlich dringlich: Im Rahmen des Wildtierdiskurses wurde von Beobachtern der Situation geäußert, dass manch privater Wildtierpfleger Tiere „Messie“-artig im Wohnzimmer sammelt, die Bedingungen oft nicht art- oder tiergerecht sind. „Es muss in Zukunft Mindeststandards für Wildtierstationen geben, ohne diejenigen zu drangsalieren, die schon jetzt die Pflege und Aufzucht auf professionellem Niveau handhaben und eigene Mittel einbringen“, resümiert Michael Pees. Derzeit sind die Fördermöglichkeiten auf der Ebene der verschiedenen Länder noch sehr unterschiedlich – „von wenig bis gar nicht, über projektgebunden bis festgeschrieben“, hieß es in Doils Vortrag.

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„Wildtierbeauftragte“ für jede Stadt?

Auffangstationen und Tierärzte sind in ähnlicher Weise mit Problemen der Finanzierung konfrontiert, auch deshalb halten Experten eine stärkere Vernetzung zwischen beiden und weiteren Gruppen für sinnvoll. „Von solchen Netzwerken würden Finder, Pfleger, Tierärzte, Naturschutzvereine und Behörden profitieren“, ist sich auch Michael Pees sicher. Eine im Rahmen des Wildtierdiskurses durchgeführte Umfrage unter Ehrenamtlichen identifizierte die Vernetzung als eines der dringlichsten Anliegen. Noch höher bewertet wurden der Wunsch nach finanzieller Unterstützung und der nach Aufklärung der Bevölkerung bezüglich heimischer Wildtiere.

Wie diese Aufklärung möglich werden könnte, wurde während des Diskurses immer wieder thematisiert. Vielfach wurde der Vorschlag geäußert, dass künftig „Wildtierbeauftragte“ in den Städten für die verunsicherte Bevölkerung als offizielle Ansprechpartner zur Verfügung stehen könnten. Allerdings brauche es, so die einhellige Meinung, noch frühere und grundlegendere Aufklärung, sie müsse in den Grundschulen beginnen.

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Mehr Respekt, weniger Vermenschlichung

„Je früher man mit der Aufklärung anfängt, desto besser“, sagt auch Lara-Luisa Grundei, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hannoveraner Klinik für Heimtiere, Reptilien und Vögel. Grundei und Franziska Schöttes, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung, haben im Rahmen des Wildtierdiskurses in Rücksprache mit einem großen Team aus ihren beiden Einrichtungen zwei „Forschungskisten“ entwickelt, die von Lehrkräften an Schulen – von der Grundschule bis zu höheren Klassen der Sekundarstufe I – gebucht werden können. Die „Vogelkiste“ zeigt die Entwicklung vom Ei zum Vogel, enthält Modelle, klärt über Ästlinge auf und lädt zu Gruppenarbeiten ein. Daneben gibt es eine virtuelle „Säugerkiste“ als Online-Angebot. „Ende März soll der erste Prototyp der Kisten fertig sein, in Schulen können die Kisten dann schon ab dem Frühsommer eingesetzt werden“, erklärt Tierärztin Grundei. Eine bundesweit operierende Firma baut die Kisten und stellt sie zum Verleih zur Verfügung (www.forschungskiste.com).

Gezeigt werden sollen die Kisten auch bei der Abschlussveranstaltung des Wildtierdiskurses im Juni. Schon vorher vorgestellt werden die Ergebnisse der Umfrage zur Einstellung gegenüber Wildtieren in der Bevölkerung, die im Rahmen des Projektes angefertigt wurde. „Wir haben gesehen, dass Emotionalität eine große Rolle spielt“, skizziert Lara-Luisa Grundei vorab einige Studienergebnisse. „Die Bevölkerung macht große Unterschiede zwischen Tierarten, die ein schlechtes Image haben, wie Wanderratte oder Taube, und Tierarten, die als ‚süß‘ empfunden werden – Letzteren will man eher helfen.“ Auch beim Wildtiermanagement gehe es oft um Gefühle: „Eine Umsiedlung von Wildtieren wird meist noch als akzeptabel empfunden, aber ein Abschuss oder ein Vergrämen ist oft nicht denkbar und wird abgelehnt.“ Aus diesen und anderen Ergebnissen sollen Handlungsempfehlungen für die Politik abgeleitet werden. Das langfristige Ziel, so Michael Pees, sei: „Mehr Respekt und weniger Vermenschlichung im Umgang mit Wildtieren.“