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Wege aus dem Tierärztemangel

Kaum noch Bewerber, eine erhebliche Abwanderung aus dem Beruf, Unterbezahlung in den Ballungsräumen, lange Arbeitszeiten in Pferde- und Kleintierpraxis – die Liste der Schreckensmeldungen aus dem tierärztlichen Arbeitsmarkt könnte noch länger sein. Woran liegt das alles und hängt es miteinander zusammen? Eine Diskussion zum „Fachkräftemangel in der Tierarztpraxis – Alles gut mit Tarifvertrag?“ bildete die Abschlussveranstaltung zum bpt-Kongress 2020 DIGITAL.

Dr. Ulrike Schimmel

Wie kommt es zum Tierärztemangel?

In den vergangenen 10 bis 15 Jahren hat sich der tierärztliche Arbeitsmarkt vom Arbeitgebermarkt zum Arbeitnehmermarkt gewandelt: Der Mangel an qualifizierten Beschäftigten bedeutet, dass diese immer öfter die Auswahl haben, wo sie zu welchen Konditionen einsteigen. Besonders für ländlich gelegene Praxen finden sich neue Mitarbeiter nur mit erheblichem Aufwand. Das betrifft die Kleintier- und Pferdepraxis noch stärker als die Nutztierpraxis. Standen Anfang der Nullerjahre Bewerber Schlange, so haben heute viele Praxisinhaber das Gefühl, sie müssten sich bei den Absolventen bewerben.

Wie kommt es zu dem eskalierenden (Land-)tierärztemangel, und könnte ein Tarifvertrag Abhilfe schaffen? Rund um diese Fragen rankte sich die berufspolitische Diskussionsrunde zum Abschluss des digitalen bpt-Kongresses 2020. Die Themenwahl beruhte auf einer Online-Abstimmung aus dem Oktober, an der sich rund 300 Tierärztinnen und Tierärzte beteiligt haben. Vertreter von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite diskutierten zwei Stunden unter Leitung von bpt-Geschäftsführer Heiko Färber auf der virtuellen Kongressplattform Gründe, Auswirkungen und Wege der Problemlösung.

Rückläufige Bewerberzahlen

Dass es seit gut 15 Jahren einen stetigen Rückgang der Bewerberzahlen gibt, kann daran liegen, dass 2006 erstmals die Missstände bei den Arbeitsbedingungen angestellter Tierärzte wissenschaftlich dokumentiert wurden – in der Dissertation von Bettina Friedrich. Dr. Elisabeth Brandebusemeyer vom Bund angestellter Tierärzte (BaT) wies darauf hin, dass sich die oft gesetzeswidrigen Arbeitsbedingungen auch 10 Jahre später, wie 2016 in der Promotionsarbeit von Johanna Kersebohm dargelegt, erstaunlicherweise kaum verbessert haben. Aus ihrer Sicht ein wesentlicher Grund, dass sich viele Approbierte außerhalb der Tiermedizin eine berufliche Zukunft aufbauen und den Beruf verlassen. Dr. Annekathrin Eckart, die seit kurzem erst Praxisinhaberin ist, erläuterte einen weiteren Aspekt der Abwanderung aus dem Beruf: Kinderbetreuung koste oft mehr, als das Gehalt einbringe. Zumindest in den Ballungsräumen, in denen Tierarztgehälter schon für die Miete kaum ausreichen, ist ein Fachwechsel dann nur folgerichtig.

Dr. Dirk Remien vom Verbund unabhängiger Kleintierkliniken (VuK) sieht eine Trendwende: „Wir beobachten seit 2 Jahren ein Umdenken bei den Arbeitgebern.“ Viele wollten nun attraktive Arbeitsplätze bieten und hätten es akzeptiert, dass sie für die Einhaltung der Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes 20 bis 30 Prozent mehr Personal einstellen müssten. Remien räumte ein, dass es in der Vergangenheit zwar Versäumnisse gegeben habe bei der Abrechnung von Arbeitszeit. Dem schloss sich mit Blick auf die Pferdepraxis auch Kathrin Siemer, Personalmanagerin in der Tierklinik Lüsche (Bakum) an: Heute dagegen stehe das Thema Wertschätzung ganz obenan. Die Wünsche der jungen Mitarbeitergeneration würden berücksichtigt.

Zu viele verlassen den Beruf

Immer wieder wird bedauert, dass kurz nach dem Berufsstart viele Kolleginnen dem Tierarztberuf den Rücken kehrten. Heiko Färber sprach von 25 bis 30 Prozent der Tierärzte. Einer Studie des „Dessauer Zukunftkreises“ zufolge gehen kurz nach dem Berufsanfang besonders viele Kollegen verloren durch eine starke Desillusionierung. Die planvolle und umfassende Einarbeitung neuer Kollegen, das im Personaljargon „Onboarding“ genannte wertschätzende Einbeziehen und Integrieren, geschehe fast nur in großen Praxen. In kleinen Praxen sei zu oft zu hören: „Ihr könnt nichts!“ Solche Frustrationen ließen sich kaum wieder gutmachen. „Die junge Generation bricht dann ab und geht dem Arbeitsmarkt verloren“, so Brandebusemeyer. Und weiter: „Die Mitarbeiter gehen wegen der Führungskraft“. Dass gute Personalführung ausschlaggebend ist, bestätigte auch Kathrin Siemer: Das „Abholen“ der Mitarbeiter, eine einfühlsame Einarbeitung, begleitet von regelmäßigen Feedbackgesprächen, seien elementar. Neue Hochschulstandorte und damit die Ausbildung von mehr Tierärzten könnten eine Lösung sein, dem Mangel an Landtierärzten zu begegnen, fand Dr. Remien. Aus Sicht von PD Dr. Andreas Palzer (bpt-Präsidium) muss das Pflichtpraktikum noch besser genutzt werden, um angehende Kollegen/Kolleginnen für den Tierarztberuf zu motivieren. Denn es gibt auch immer mehr einen Mangel an Inhabern: „Wir haben es in den letzten Jahren versäumt, im Studium die Vorteile der Selbständigkeit zu zeigen.“

Lage, Lage, Lage!

Für die Nutztierpraxis sieht Palzer die Ursachen eines Nachwuchsmangels in erster Linie im Praxisstandort. Es mangele nicht am Gehaltsniveau. Doch bei Praxisorten anderthalb Stunden entfernt von einer Großstadt sei die Mitarbeitersuche schwierig. Hinzu kämen bestimmte Merkmale der Nutztierpraxis an sich, die von Absolventen als unattraktiv empfunden werden können: Man arbeite in einer Fahrpraxis, auch könne das Spannungsfeld Tierschutz – Nutztierhaltung belastend sein. Das stetig verschärfte Arzneimittelrecht und die zunehmenden Dokumentationspflichten machten die Nutztierpraxis nicht attraktiver. Palzer: „Wenn zu viele Negativbausteine zusammenkommen, kann ich das nicht mit Geld beheben.“ Das bestätigte auch die Kleintierpraktikerin Dr. Eckart. Es sei schwierig, jemanden zu finden, der bereit sei, aufs Land zu ziehen. Trotz guter Gehaltslevels rekrutiere sie fast ausschließlich über Freunde, Bekannte und ehemalige Praktikanten.

Kliniksterben und Notdienstproblem

Der Mangel an angestellten Tierärzten und tiermedizinischen Fachangestellten ist mit verursachend für das aktuell zu beobachtende „Kliniksterben“, führte Dr. Remien aus. Denn der Schichtbetrieb rund um die Uhr, der notwendig ist, um gesetzliche Arbeitszeitbestimmungen einzuhalten, kann unter Personalmangelbedingungen nicht aufrechterhalten werden. Und je mehr Kliniken ihre Klinikzulassung zurückgeben, desto weniger Notdienstangebote gibt es. PD Dr. Palzer wandte ein, dass auf dem Land der Notdienst fast allein durch kleinere Praxen aufrechterhalten wird, nicht so sehr durch große Einheiten. Er warnte in diesem Zusammenhang vor einem Strukturwandel, der große Praxen begünstigt. Diese seien durch deutlich höhere Finanzkraft gegenüber den kleineren Praxen bei der Personalsuche im Vorteil, sodass dort der Fachkräftemangel drastischer werde.

Warum studieren so wenige Männer?

Moderator Heiko Färber warf die Frage auf, warum sich für das Studium der Tiermedizin so wenige Männer bewerben im Vergleich zu den anderen Heilberufen. Dr. Palzer sieht einen Grund im in den Medien vorherrschenden Berufsbild. Dr. Remien gab sich eher reumütig: „Wir haben den Beruf kaputt gemacht. Männer erhoffen sich in anderen Berufen mehr.“ Das sieht auch Dr. Palzer so: „Es ist kein Beruf, wo man erwartet, Geld zu verdienen.“ Das allein begründe schon, dass Männer nicht einmal mehr 10 Prozent der Studienbewerber ausmachen. Die für Heilberufler unterdurchschnittlichen Gehälter können heute leicht übers Internet verglichen werden. Aus Palzers Sicht muss dringend mehr Geld insgesamt in die Branche fließen. Tierarztleistungen werden im internationalen Vergleich in Deutschland seit langem oft nicht kostendeckend abgerechnet. Häufig, weil Inhabern betriebswirtschaftliche Kenntnisse fehlen. Dem stimmte Dr. Brandebusemeyer zu: „Es gibt kaum eine andere Branche, in der ohne Ende gearbeitet werde, ohne dass es sich rechne.“

Wie kann ich attraktive Arbeitsplätze schaffen?

Im Kampf ums Personal gehe es zuerst darum, den großen Nachholbedarf der Branche bei Führungskompetenzen und Personalmanagement auszugleichen. Darin waren sich die Diskussionsteilnehmer weitgehend einig. Laut Dr. Remien hätten viele Arbeitgeber gemerkt, dass sie mit den Arbeitnehmern nicht weiter umgehen könnten wie bisher. Kathrin Siemer forderte, jeden Mitarbeiter individuell zu fördern. Dabei müsste die Branche noch weitaus professioneller werden. Bewerbern gehe es eher um Arbeitszeiten und Dienstverteilung als ums Gehalt. Doch die Wertschätzung der Mitarbeiter stehe im Vordergrund. „Meine Mitarbeiter sind mein Kapital“, diese Denkweise empfahl Dr. Eckart.

Was könnte ein Tarifvertrag leisten?

Was kann ein Tarifvertrag? Die starren Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes von maximal 10 Stunden Arbeit täglich (mit Zeitausgleich) und mindestens 11 Stunden Pause zwischen zwei Arbeitstagen sind aus Sicht von Dr. Remien zu unflexibel: „Diese Zeiten sollten aufgebohrt werden“, sagte er mit Blick auf die Möglichkeit, durch Tarifverträge auch Arbeitszeitregelungen anzupassen. Für gute Gesamtrahmenbedingungen tierärztlicher Angestellter in Deutschland hält der VuK-Repräsentant einen Tarifvertrag für ein brauchbares Instrument. PD Dr. Palzer hielt dem entgegen, am Beispiel der Humanmedizin zeige sich, dass allein ein Tarifvertrag nicht alles löse. Der durchschnittliche Klinikarzt sei trotz Tarifvertrags recht unglücklich. Dr. Brandebusemeyer vom BaT erläuterte den Nutzen von Tarifverträgen: Sie regelten die allgemeinen Arbeitsbedingungen und die Gehälter. Sie besäßen eine Ordnungsfunktion, gäben Planungssicherheit und erfüllten damit eine Friedensfunktion für die Arbeitsverhältnisse. Es ginge bei Tarifverträgen um viel mehr als nur um Arbeit gegen Geld. Brandebusemeyer erwartet auch, dass mit einen Tarifvertrag das Interesse am Tierarztberuf für Männer wieder steigen könnte. Dr. Remien stimmte zu, ein Tarifvertrag schaffe Frieden zwischen Arbeitgeber und -nehmer. Aus Sicht von Dr. Palzer könte aber auch das genaue Gegenteil der Fall sein, da ein Tarifvertrag beim Kampf ums Personal vor allem den großen Einheiten nutze und der Deal „mehr Arbeitszeit gegen mehr Geld“ nicht das sei, was sich - aus seiner Sicht - die Mehrheit der angestellten Tierärzte/innen vorstellt. Unbeantwortet blieb die Abschlussfrage von Moderator Heiko Färber, wann denn mit Tarifverhandlungen zwischen BaT und VuK gerechnet werden kann.  „Nicht nur mit dem VuK, auch mit den Corporates sind wir dazu im Gespräch“, so Brandebusemeyer.

Kontakt zur Autorin: bpt.schimmel@tieraerzteverband.de