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Foto: Franz Marc, Liegender Hund im Schnee; Städel Museum/bpk
Liegender Hund im Schnee. 1910/1911.

Berliner und Münchener Tierärztliche Wochenschrift

Podiumsdiskussion: Armes Häschen, bist du krank?

Wenn Tiere zu Patienten werden – ein medizinethisches Fachgespräch

Ethik ist in der Tiermedizin neu und noch ungewohnt, in der Medizinethik werden Tiere und ihre Medizin nicht oder nur als Exoten zum Thema. Zugleich gehören Besuche beim Tierarzt so selbstverständlich zum Haustier wie die Leine zum Hund – und damit auch regelmäßig herausfordernde Entscheidungen über Therapien und Angemessenheit. Während also die Berührung mit ethischen Dimensionen der Tiermedizin in der Gesellschaft so weit verbreitet ist wie die Haustierhaltung selbst, ist das Verbreitungsgebiet der deutschsprachigen akademischen Veterinärethik noch klein und übersichtlich. Mit der öffentlichen Podiumsdiskussion in dem historisch einschlägigen Tieranatomischen Theater in der Mitte Berlins haben wir im Rahmen der ersten Tagung des Netzwerks Tiermedizinische Ethik auf diese Situation reagiert. Dass Veterinärethik interessiert und betrifft, hat allein die schnelle Auslastung der öffentlichen Veranstaltung im Vorfeld gezeigt, die schließlich von Frau Heidemarie Ratsch, Präsidentin der Berliner Tierärztekammer, mit einem Grußwort eröffnet wurde. Mit Vertretern und Vertreterinnen aus der Intensivtiermedizin wie aus der tiermedizinischen „Alltagspraxis“, aus der (Human-)Medizinethik wie aus der Veterinärethik signalisierte die Besetzung des Podiums neben der Praxisnähe der Veterinärethik auch ihr Potenzial zur Bildung von Anschlüssen und Reibungen in Ethik wie Gesellschaft. Im Folgenden lesen Sie ein Transkript dieser Veranstaltung.

Weich: Die Gründung des Netzwerks Tiermedizinische Ethik Ende 2017 steht im Zeichen der Erschütterungen und Verwerfungen in der Mensch-Tier-Beziehung, die unsere Zeit kennzeichnen. Was den Menschen vom Tier unterscheidet, was sie verbindet, wie das Verhältnis zwischen Mensch und Tier zu fassen sei, welche Verantwortlichkeiten, welche Pflichten, aber auch welche Potenziale und utopisch-politische Sprengkraft das Zusammenleben von Mensch und Tieren haben kann – diese Fragen stellen sich in den letzten Jahrzehnten mit erhöhter Dringlichkeit. (…) Erst in jüngster Zeit werden auch in der Tiermedizin die ethischen Fragen in den Blick genommen, die in, während und durch diese Betreuung entstehen. Ist dem Kaninchen eine Zahn-OP zumutbar? Ist eine Chemotherapie für den Hund angemessen? Wer entscheidet eine solche Frage? Wie können hier Entscheidungen getroffen werden? Steht das Wohl der tierlichen Patienten im Vordergrund oder das der Halter und Halterinnen? Kann tiermedizinische Fürsorge auch zu weit gehen – und wenn ja, wie lässt sich diese Grenze bestimmen? Wir wollen uns heute mit Ihnen über diese Fragen verständigen.

Russold: Ich habe einen Fall mitgebacht, der uns wirklich an unsere Grenzen gebracht hat. Es geht um eine Katze mit dem unglücklichen Namen Felix, die drei Jahre alt war und bei uns an der Universität mit Pyothorax, sprich Eiter im Brustraum, vorstellig wurde. (…) Das Undankbare daran ist, dass die Heilungschance der Katze bei 85–90 Prozent liegt, sofern man die Ursache findet und beseitigen kann. Die Kehrseite der Medaille ist, dass man, um dieses Ziel zu erreichen, mehrere, teilweise sehr schmerzhafte diagnostische Verfahren durchführen muss, die eine sehr hohe Compliance der Katze benötigen. In diesem Falle, wie das leider so oft ist, geht es der Katze nach zwei Wochen immer noch nicht gut. Man hat sich für eine Operation entschieden, hat wieder von vorne angefangen. Die ganze Prozedur hat drei Wochen gedauert. Die Katze ist jetzt gesund. (…) Es hat uns an die Grenze von „Wir wollen ja dem Tier helfen und nicht wehtun“ gebracht, denn im Zuge dessen, dass wir helfen können, sind wir sehr invasiv mit unseren Methoden. Das ist schwierig für uns als Tierärzte, für die Pfleger, aber auch für das Tier – Gott sei Dank hat Felix mitgemacht – und für die Halter. Es gab eine persönlich sehr emotionale Hintergrundgeschichte und mehrmals Diskussionen, wie wir weiter vorgehen sollen, ob eine Euthanasie infrage kommt. Alles in allem war dieser Fall für uns ethisch sehr schwierig. Wir haben uns trotzdem entschieden, das zu machen, gemeinsam mit dem Besitzer – ich bin auch der Meinung gemeinsam mit der Katze – und es war ein gutes Ergebnis.

Weich: Was kann die theoretische Ethik zu diesen Problemen der Praxis beitragen?


Top Job:



Top Job:


Kunzmann: (…) Was ich in meiner Position in solchen Fällen mache, ist, zu versuchen, die Fragen herauszuarbeiten, die sich da stellen. Die Situation, die Sie schildern, ist eine kardinale Frage, die immer wiederkehrt. Wir haben in Deutschland und in Österreich ein Tierschutzgesetz. Gleich im Paragraph 1 stehen zwei wesentliche Schutzziele: das Leben und das Wohlbefinden der Tiere. Was passiert nun, wenn beides zusammen nicht ohne Weiteres zu haben ist? In dieser Bandbreite bewegen sich diese Entscheidungen. (…) Was kann Ethik dabei machen? Sie versucht die unterschiedlichen Konfliktlinien zu unterscheiden. Wie verhält sich das: mit einem Auge auf die Tiere und mit dem anderen auf die Menschen gucken? Sie haben ja mehrmals darauf rekurriert: Die Katze muss mitmachen. Das ist einer der Punkte, wo Tier- und Humanmedizin sehr unterschiedlich sind, denn die Humanmedizin steht im Spannungsfeld zwischen Patientenwohl und Patientenwille. (…) Seit dreißig, vierzig Jahren ist das einer der Eckpfeiler dessen, was wir tun dürfen: Keine Behandlung ohne Einwilligung. Aber was heißt das übertragen auf die Tiermedizin?

Weich: Inwiefern kann man Prinzipien der Ethik in der Humanmedizin auf die Tiermedizin übertragen?

Michl: Zunächst möchte ich feststellen, dass es zwischen dem, was Frau Russold eben erzählt hat, und dem, was ich selbst in der Humanmedizin oder in der Beratung auf Intensivstationen erlebe, sehr viele Parallelen gibt. Hier geht es ebenfalls um Prinzipien wie das Fürsorge- oder das Nichtschadensprinzip, und um die Frage: Wie viel können wir im Bereich der Therapiemaßnahmen zumuten? Diese Zumutbarkeit ist etwa bei Neugeborenen gar nicht so leicht festzustellen. (…)
Eine andere Parallele ist die Stellvertreterentscheidung. Die meisten der Patienten, die ich sehe, sind nicht mehr ansprechbar und können ihren Willen nicht mehr äußern, d. h. es sind andere Menschen, die für sie Entscheidungen treffen, ähnlich wie der Tierhalter für das Tier entscheidet. Es geht hier also um Stellvertreterentscheidungen. Dabei halte ich wenig von der immer wieder argumentierten Rücksicht auf das Tierbesitzerwohl, denn es gibt hier einen ganz klaren ethischen und gesetzlichen Auftrag. Der Stellvertreter ist dazu angehalten, nicht nach eigenem Wunsch eine Entscheidung zu treffen, sondern tatsächlich den mutmaßlichen Willen des Patienten festzustellen: Was hätte er/sie denn gewollt? Das ist natürlich sehr schwierig festzustellen. (…) Inwieweit diese Konzepte wie ein mutmaßlicher Wille auf die Tiermedizin übertragbar wären, ist eine offene Frage.

Göbel: Im Endeffekt bin ich jeden Tag, bei jedem Patienten mit solchen Entscheidungen betroffen. Ich als Tierarzt entscheide mit, wie es mit dem betroffenen Patienten weitergeht. Dass wir mit Fällen konfrontiert werden und diese einschätzen müssen, ist eine Tatsache, der wir uns tagtäglich stellen müssen. Sie betrifft nicht nur Entscheidungen über die großen Dinge wie den Tod oder Intensivmaßnahmen, sondern ganz alltägliche Dinge, etwa die Ernährung. (…) Oft muss man dem Besitzer klarmachen, dass man seine Wünsche nicht erfüllen kann, etwa wenn er ein Tier euthanasieren lassen will, bei dem nicht ausreichend oder noch gar keine therapeutischen Maßnahmen gesetzt wurden. Auch hier stellt sich eine Aufgabe für den Tierarzt, den Besitzer vielleicht weiter zu bringen, dass er seine Meinung ändert und klarer eine Entscheidung für das Tier trifft. Mir wurde eigentlich erst mit der Beschäftigung mit diesen Themen klar, wie sehr sie das gesamte Berufsleben des Tierarztes durchdringen und durchziehen, gar nicht so sehr in den großen Fragen, sondern in den ganz kleinen, alltäglichen Aspekten.

Themenheft Tiermedizinische Ethik

Tiere halten, Tiere nutzen: Das Themenheft der Berliner und Münchener Tierärztlichen Wochenschrift beleuchtet das Thema Ethik in all seinen Facetten, die der tierärztliche Berufsstand mit sich bringt.
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Bilder vom richtigen Leben

Publikumsfrage: Es gibt in der medizinischen Praxis regelmäßig Fälle, in denen keine komplette Heilung mehr erreichbar ist, etwa bei Amputationen. Spielen hier nicht auch gesellschaftliche Vorstellungen davon eine Rolle, was für Tiere natürlich und gut ist? Ob das Leben mit einer Amputation lebenswert oder unwürdig ist?   

Russold: (…) Zur Frage der Lebensqualität nach Amputationen: Ich habe lange in Australien gearbeitet und die amputieren, genauso wie die US-Amerikaner, sofort, da ist das gar kein Thema. Dem Hund ist es egal. Ich komme ja aus der Palliativmedizin und es tut mir im Herzen weh, wenn sich Patientenbesitzer oder auch Tierärzte nicht für die Amputation entscheiden können.  Denn ich sehe, wie die Hunde danach auf drei Beinen laufen und es ihnen damit gut geht.

Göbel: Das typische Beispiel hier ist ein Meerschweinchen mit Kieferabszess. Man hat es bereits einmal operiert und weiß aus der Erfahrung: Die Erfolgsrate ist extrem gering. Dann kommt es ein zweites Mal, die Besitzer wollen erneut eine Operation vornehmen lassen und der Arzt weiß bereits, dass das nicht mehr heil wird. Die Besitzer sind überzeugt davon: Wir machen weiter, wir füttern das Meerschweinchen die nächsten Monate dreimal pro Tag per Hand. Dann fällt dem Arzt die schwere Aufgabe zu, sie zu überzeugen: Stopp, das ist für das Tier jetzt nicht mehr zu ertragen, auch wenn es relativ willenlos mitmacht, findet es das nicht toll, jeden Tag überwältigt und gefüttert zu werden. Diese Fälle hat man oft und sie sind sehr typisch.

Weich: Also eine Verteidigung des Patienten auf der Grundlage seiner Natur…

Göbel: Ja, natürlich. Aber auf der anderen Seite muss man das auch kritisch sehen und sich immer fragen: Gibt es vielleicht jemanden, der mehr kann, der es besser kann? In einigen Fällen muss man sagen, für mich ist hier Schluss, aber dennoch den Ratschlag geben, woanders entweder eine Bestätigung zu finden oder aber jemanden zu finden, der mehr kann. Man muss hier auch seine eigenen Grenzen erkennen können.  

Weich: Frau Michl, manches in diesen Schilderungen aus der tiermedizinischen Praxis ließ Sie zusammenzucken. Aus der Sicht der Humanmedizinethik: Was befremdet, was klingt vertraut?  

Michl: Es gibt hier verschiedene Dinge, die ich aufgreifen könnte. Ich greife den Punkt auf, dass wir auch in der Humanmedizin, gerade bei sehr schwierigen Entscheidungssituationen, mit gesellschaftlichen Bildern konfrontiert sind. Oft sind das Bilder von technisch assistiertem Leben oder Überleben. (…) Manchmal ist es notwendig, aber auch sehr schwierig, dagegen anzugehen, denn eine Intensivtherapie sollte stets eine provisorische Therapie sein. Wir müssen immer wieder gegen solche sehr suggestive Bilder anreden und es wäre die Frage, ob es die nicht auch in der Tiermedizin gibt. Gerade technische Assistenzsysteme: ein Hund im Rollstuhl, das scheint doch wahrscheinlich vielen als nicht natürlich.

Russold: Ja, das gibt es auf jeden Fall. Ich erlebe die meisten Irritationen von Besitzern in Situationen der Amputation und sehe, dass viele Hunde mit ihrem Rollstuhl viel besser zurechtkommen als die Besitzer. Eine interessante Grenze, an die ich gestoßen bin, ist übrigens Methadon, das wir in der Intensiv-Tiermedizin standardmäßig als Schmerzmittel verwenden. Wir hatten eine Besitzerin, die gerade in Krebsbehandlung war und Methadon mit der höchsten Palliativstufe, also dem bevorstehenden Tod, assoziierte. Es hat circa 24 Stunden intensiver Kommunikation benötigt, bis wir herausgefunden haben, warum sie ihren jungen Hund lieber einschläfern lassen wollte.

Wert und Würde – das Haustier als Luxusgut?

Publikumsfrage: Oft scheitert die Behandlung eines Tieres an den finanziellen Möglichkeiten der Besitzer. Da stellt sich die Frage: Was sind uns Tiere wert? Könnten wir ihre medizinische Versorgung durch ein Versicherungssystem besser abdecken? Und gibt es überhaupt ein Recht auf Tierhaltung?

Kunzmann: Es gibt eine Pflicht des Patientenhalters, für sein Tier angemessen aufzukommen, es angemessen zu pflegen. Dabei gibt es zwei Klippen. Die eine besteht darin, zu sagen, dass das ein Anspruch ist, der immer, überall und grenzenlos stattfindet. Dazu gibt es in der Ethik die Figur des Überlegungsgleichgewichts: Ist ein prinzipielles Ja nach oben hin unbegrenzt offen? Die meisten Menschen würden sagen: Nein. Juristisch würde man das die Grenze des Zumutbaren nennen. Wo liegt diese Grenze? Noch gibt es keine verbindlichen Kriterien für eine Grenze des Zumutbaren nach oben hin. Dafür gibt es eine deutliche Grenze nach unten hin: Aus der Verpflichtung, für ein Tier aufzukommen, resultiert auch die Verpflichtung, für zumutbare Kosten der Tierarztbehandlung aufzukommen. Das könnte darauf hinauslaufen, dass einige Menschen keine Tiere halten dürfen, weil sie für die Kosten dieser Haltung nicht aufkommen können. Das ist sozial-politisch natürlich Sprengstoff, aber eigentlich eine klare Konsequenz des Paragraph 2 aus dem Tierschutzgesetz: Wer ein Tier halten will, hat angemessen für dessen Pflege zu sorgen – und dazu gehören auch Tierarztkosten. Die Idee einer allgemeinen Pflichtversicherung für Haustiere, nach dem Modell der Versicherung, die wir aus der Humanmedizin kennen, halte ich für sehr viel fragwürdiger, als sie zunächst scheinen mag. Ich will das an dieser Stelle nicht ausführlicher durchspielen, aber wahrscheinlich wäre eine verpflichtende Versicherung für viele Haustierbesitzer gar nicht leistbar.

Weich: Wir befinden uns hier also im ständig in Bewegung befindlichen Feld der ökonomischen Wertgebung von Haustieren – natürlich auch von Nutztieren, was immer mitzudenken und zu reflektieren ist. Ich möchte diesen Punkt gerne weitergeben an Sie, Herr Dr. Göbel, vor allem im Hinblick auf Ihre Spezialisierung auf Heim- und Kleintiere: Ich habe den Eindruck, dass sich auf diesem Sektor sehr viel verändert hat. Wie erleben Sie das?

Göbel: Da hat sich extrem viel verändert. Wenn ich an das Beispiel des Kaninchens denke und dabei 30 Jahre Berufserfahrung überblicke, dann muss ich sagen: Als ich angefangen habe, lag die Lebenserwartung eines Kaninchens bei vier bis sechs Jahren, heute stehen wir bei zehn bis zwölf Jahren. Das liegt daran, dass sie viel bewusster gehalten, viel besser ernährt werden. Und es hat damit zu tun, dass sich die tierärztliche Fürsorge für Kleintiere extrem erweitert hat. Heute gelten chirurgische Eingriffe als Standard, die, als ich angefangen habe, undenkbar waren. Es ist diese Horizonterweiterung, die ich an meinem Beruf so liebe: Wir müssen uns hier ständig weiterentwickeln. Viele Dinge, die wir früher praktiziert oder gemeint haben, sind heute gar nicht mehr vereinbar mit unserem Beruf. Das ist eine dauernde Veränderung, die ich als sehr spannend empfinde.

Kunzmann: Ich möchte hier noch eine grundlegende Richtung aufzeigen, in die wir uns bewegen. Wir kommen aus einer Kultur, in der das Tier klar Teil des Hausrats ist und als Ressource genutzt wird. Dagegen erkennen wir nun immer mehr an, dass diese Tiere Bedürfnisse haben, die wir vorrangig zu bedienen haben, dass ihr Wohlergehen ein Wert an sich ist, dass sie Würde haben. (…) Ganz viel von dem, was wir hier diskutieren, entsteht meines Erachtens aus dem Konflikt, dass wir auf der einen Seite ein Bild und eine jahrhundertalte soziale Praxis von Tieren haben, die ganz anthropozentrisch davon ausgeht, dass die Tiere dazu da sind, dass wir Spaß haben. Dazu gehört auch der Anspruch, dass man Tiere völlig unabhängig von den Umständen halten darf. Doch wenn wir auf der anderen Seite anerkennen, dass die Tiere Ansprüche haben, dann können wir an dieser Praxis so nicht weiter festhalten. (…) Viele Formen des Umgangs mit Haustieren, die wir tagtäglich beobachten, sind mit unseren Tierschutzbestimmungen nicht vereinbar – diesen Besitzern müssten eigentlich die Tiere weggenommen werden. So leid mir das tut. Es wird eine lange und polare gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber geben, wie wir unsere gewohnte soziale Praxis, dass Tiere dazu da sind, unser Leben zu bereichern, verändern sollen, damit sie sich nicht länger mit Tierrecht, Tierschutz und den Ansprüchen der Tiere reibt.

Eine Medizin, die zuhört

Weich: Der kranke Kater Felix hat auf der Intensivstation mitgemacht. Der Einbezug des Patienten ist ein wichtiges Kriterium in der klinischen Ethik. Der Patient muss einbezogen werden, die Autonomie des Patienten muss anerkannt und berücksichtig werden.

Michl: Wir sind ja von der Diskrepanz zwischen Human- und Tiermedizin ausgegangen, gerade in der ethischen Berücksichtigung des Patientenwillens in der Humanmedizin, der schwer in der Tiermedizin zu finden sei. Wir wollen in der Humanmedizin einen autonomen Patienten, doch nicht alle Menschen sind in der Lage, ihren Willen zu bezeugen. In der Humanmedizin legen wir das juristisch-ethische Konzept eines natürlichen Willens an, der klaren Kriterien unterliegt und schwerwiegende Entscheidungen legitimieren soll. Darunter werden derartige intentionale oder nicht-intentionale Äußerungen von Personen verstanden, denen zum Äußerungszeitpunkt die Fähigkeiten einer freiverantwortlichen Willensbildung fehlen. Das kann etwa bei Demenzkranken das Wegdrehen, das Verweigern von Nahrung sein. Das Problem hierbei ist der Ermessensspielraum der Interpretation, sodass der natürliche Wille nicht mit dem autonomen Willen auf eine Stufe gestellt werden sollte. Wir wissen nicht ganz genau, ob der Patient uns sagen will, dass er bestimmte Therapien nicht mehr erhalten will. Ein weiteres Problem sind Projektionen: Wir beobachten natürliche Regungen und füllen diese mit unseren Projektionen auf. Das scheint mir insbesondere in der Tiermedizin und der Tierhaltung sehr relevant zu sein. Auf der anderen Seite sind diese natürlichen Willensregungen immer, ethisch wie juristisch, ernst zu nehmen, weil sie uns etwas sagen. Die Katze, die sich vielleicht weigert, mitzumachen – darauf müssen wir immer reagieren, in irgendeiner Form. Vielleicht könnte man über dieses Konzept eine Annäherung starten.
Russold: Wie viele Tierärzte sind von Katzen schon gebissen worden? Ja, es gibt definitiv Bekundungen von Unwillen. Bei Katzen wohl noch aktiver und aggressiver als bei Hunden, bei denen man schon genauer Acht geben muss. Wir haben auch Fälle, die wir als nicht therapierbar nach Hause schicken. In der Intensivstation haben wir den Luxus, dass wir uns wirklich Zeit nehmen können für unsere Patienten. Ich halte von Zwangsmaßnahmen nichts, d. h. wenn wir unsere Patienten nicht in einer gewissen Zeit dazu bekommen, dass sie mitarbeiten und einen Eingriff akzeptieren, dann besprechen wir das mit den Haltern und schicken diese Patienten auch heim. Mit der Information, dass die optimale Therapie für das Tier nicht durchgeführt werden kann.

Weich: Damit sind wir, nachdem wir beim Kater Felix begonnen haben, der durch seine Kooperationsbereitschaft einen positiven Ausgang seiner Therapie ermöglicht hat, am Ende unserer Veranstaltung und bei widerständigen Tieren angekommen. Ich denke, dass das ein schönes Bild ist, einer Tiermedizin, die sich selbst immer wieder kritisch hinterfragt, die sich auf Gespräche einlässt, die ihre Nähe und Unterschiede zur Humanmedizin anspricht und die in einer Gesellschaft, in der Medizin vor allem als Humanmedizin thematisiert wird, den Dialog sucht. Wir sind bei einer Tiermedizin angelangt, die bereit ist, zuzuhören, und im Zweifelsfall bereit ist, sich zurückzuziehen und damit dem Patienten das letzte Wort zu überlassen. Damit bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. Vielen Dank!

Diskutierende:

Dr. med. vet. CVPP MRCVS Elena Russold, CertVA: Oberärztin für Anästhesie, Veterinärmedizinische Universität Wien

Prof. Peter Kunzmann: Professor für Angewandte Ethik in der Tiermedizin, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover

Prof. Susanne Michl: Juniorprofessorin für Medical Humanities und Medizinethik, Charité - Universitätsmedizin Berlin

PD Dr. Thomas Göbel: Tierarzt, Berlin

Moderation:

MMag. Kerstin Weich, PhD: Messerli Forschungsinstitut, Abteilung Ethik der Mensch-Tier-Beziehung, Universität Wien, Medizinische Universität Wien, Veterinärmedizinische Universität Wien

Transkription:

Christoph Schachenhofer, MA, freier Lektor


* Dieser Artikel ist nicht peer-reviewed.

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