von Rainer von Aerssen, Michael Schmaußer, Axel Wehrend, Volker Krömker, Alexander Starke, Georg Eller, Martin Gehring, Rainer Schneichel, Franz Zimmer
Die Zahl der kuhhaltenden Betriebe sinkt stetig, während die der Kühe in Deutschland noch annähernd konstant bleibt. Daraus resultiert, dass Betriebe, welche auch in Zukunft Milch und Rindfleisch produzieren wollen, größer werden, sich entwickeln und erneuern.
Wir halten das für Tier und Mensch, ohne Wertung der wirtschaftlichen Zwänge, die diese Entwicklung forcieren, für positiv. Neue Stallungen für Rinder bieten gute Haltungsbedingungen. Verbreitete moderne Sensortechnik ermöglicht eine sensible Überwachung, insbesondere bei der Früherkennung kranker Tiere. Auf vielen Betrieben arbeitet gut ausgebildetes Personal, zum Teil mit akademischem Hintergrund. Arbeitsabläufe und Verantwortlichkeiten sind oft genau definiert. Nach wie vor ist die schnelle Erkennung und Versorgung kranker Einzeltiere ein zentrales Anliegen, was durch die Größe der Betriebe nicht an Bedeutung verliert.
Viele kranke Tiere können nicht zeitnah behandelt werden
Top Job:
Treten vermehrt gesundheitliche Probleme bei Kühen auf, z.B. Mastitiden oder Metritiden, kann das auf einem großen Betrieb bedeuten, dass zeitweise jeden Tag neue Tiere erkranken.
Nach derzeitiger Gesetzeslage (TAMG, TÄHAV) kann die Diagnose nur von einem Tierarzt gestellt werden. Dies bedeutet nach der Interpretation vieler Veterinärbehörden, dass für die Einleitung einer Behandlung mit Tierarzneimitteln bei jedem Einzelfall, unabhängig von dessen Schweregrad oder Spezifität, die Anwesenheit eines Tierarztes Bedingung ist. Der Umgang mit der Gesetzesvorgabe wird in den Bundesländern zudem sehr unterschiedlich gehandhabt. Rechtsunsicherheit für uns Tierärztinnen und Tierärzte ist die Folge. Vor allem aber ergibt sich daraus – vor dem Hintergrund verfügbarer Tierärzte für Nutztiere – ein tierschutzrelevantes, logistisches Problem. Viele kranke Tiere können so nicht zeitnah behandelt werden. Notfälle wie Schwergeburten oder chirurgische Eingriffe haben Vorrang und die schiere Anzahl einfach gelagerter Fälle verhindert deren frühzeitige Versorgung.
Dabei wird eine Mastitis üblicherweise beim Melken durch Landwirte oder deren Personal erkannt. Es handelt sich um eine je nach Schweregrad schmerzhafte Erkrankung, der eine sofortige Behandlung für die Prognose unstrittig zuträglich wäre. Schmerzausschaltung, Entzündungshemmung und eine lokale, antibiotische Versorgung der Milchdrüse könnten unmittelbar über eine Verabreichung von Tierarzneimitteln durch eingewiesenes Personal des landwirtschaftlichen Betriebes erfolgen, welches nach einem vom Tierarzt festgelegten Behandlungsschema handelt – und nicht erst nach Stunden, wenn es der Tierarzt oder die Tierärztin in ihrem Tagesablauf schafft, den Betrieb zu besuchen.
Der Gesetzgeber gibt Spielraum
Die strenge Auslegung der gesetzlichen Vorgaben darf nicht dem im Artikel 20a des Grundgesetzes festgelegten Tierschutz entgegenstehen. Die gültigen Gesetzesvorlagen machen einen flexiblen Umgang mit dem Begriff der klinischen Untersuchung als Voraussetzung für die Entscheidung zur Behandlung mit bzw. Abgabe von Tierarzneimitteln für Nutztiere möglich: §12 der TÄHAV differenziert, dass „die Tiere oder der Tierbestand in angemessenem Umfang vom Tierarzt untersucht worden sind“. Die ab 28. Januar 2022 rechtsverbindliche EU VO 2019/06 spricht von „klinischer Untersuchung oder einer anderen angemessenen Prüfung“. Der Gesetzgeber gibt hier, nicht ohne Grund, mehr Spielraum. Flexibilität und Vereinheitlichung auf Behördenebene sind auch im Sinne der Verordnung (EU) 2016/429 (EU-Tiergesundheitsrechtsakt, Animal Health Law [AHL]).
Diesen modernen Gesetzesvorgaben muss in Interpretation und Umsetzung durch alle Kontrollorgane, Veterinär- und Landesbehörden, für Landwirtschaft und Tierärzteschaft gleichmäßig Rechnung getragen werden: Behandlungsentscheidungen müssen unter genauer Kenntnis der betrieblichen Gegebenheiten auch ausschließlich aufgrund von Laborbefunden, Gesundheitsdaten oder Telemedizin getroffen werden können.
Die hohe Arbeitsbelastung in der Nutztiermedizin, welche der Grund für den Arbeitskräftemangel in diesem Bereich ist, könnte reduziert werden, indem Besuche für eindeutig erkennbare Krankheiten vermieden werden. Es bliebe mehr Zeit für Sanierungskonzepte und evaluierende Bestandsbesuche.
Es ist notwendig, gut ausgebildetes Personal auf den landwirtschaftlichen Betrieben in enger inhaltlicher Zusammenarbeit mit der betreuenden Tierarztpraxis zur primären medizinischen Versorgung von leidenden Nutztieren heranzuziehen.
Die Abgabe von Arzneimitteln für Tiere, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in der Zukunft erkranken können, ist rechtlich möglich und notwendig.
Rahmenbedingungen der tierärztlichen Arbeit für Nutztierbestände
Die Unterzeichnenden, eine Gruppe aus Universitätsprofessoren der veterinärmedizinischen Hochschulen und Rinderpraktikern, möchten eine Diskussion zur Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen der tierärztlichen Arbeit für Nutztierbestände durch alle Beteiligten anstoßen.
Folgende Aspekte möchten wir dazu initial beitragen:
- Betriebsindividuelles Festlegen der Aufgabenverteilung von Beschäftigten in landwirtschaftlichen Betrieben und Tierärzten. Dies hängt von den Fähigkeiten der beteiligten Personen und den Produktionsbedingungen ab.
- Erfassung von tiergesundheitlichen Basisdaten (Erkrankungshäufigkeiten), Leistungsdaten und deren Entwicklung
- Schulung des Betriebspersonals (frühzeitige Erkennung und Interpretation von Befunden am Tier; Umgang, Applikation und Lagerung von Medikamenten sowie Dokumentation und Therapiekontrolle; Biosicherheit)
- Erstellung von diagnostischen Maßnahmen-Katalogen und Therapieplänen
- Ergänzende Einbindung digitaler Tools als Komponenten moderner medizinischer Arbeit in die Herden- und Einzeltierbetreuung – z. B. Telemedizin, Laborbefunde und Gesundheitsdaten. Durch Telemedizin können Tiere zeitnah beurteilt und notwendige tiergesundheitliche Entscheidungen bei größtmöglicher Biosicherheit getroffen werden. Das ist erforderlich, um eine Verzögerung des Behandlungsbeginns zu vermeiden und damit die Tiergesundheit und das Tierwohl von Nutztieren zu verbessern.
Dies soll ein Beitrag für eine zeitgemäße tiergesundheitliche Entwicklung der landwirtschaftlichen Betriebe und des One-Health-Ansatzes (Tierwohl, Resistenz - und Antibiotikaminimierung, Zoonosebekämpfung, sichere Lebensmittel tierischer Herkunft) sein.
Die großen Veränderungen in Gesellschaft, Landwirtschaft und Tiermedizin brauchen neue Konzepte.
Rainer van Aerssen, Ankum
Dr. Michael Schmaußer, Freising
Prof. Axel Wehrend, Gießen
Prof. Volker Krömker, Kopenhagen/Hannover
Prof. Alexander Starke, Leipzig
Dr. Georg Eller, Hofheim
Dr. Martin Gehring, Marsberg
Dr. Rainer Schneichel, Mayen
Franz Zimmer, Frankenau
Wir würden uns freuen, wenn Sie sich an dem Diskussionsprozess beteiligen. Senden Sie Ihre Meinung an vetherdhealth@gmail.com