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Foto: Katja Riedel

Inhaltsverzeichnis

Der Praktische Tierarzt

Haltungsbedingte Verhaltensstörungen – ein Fallbericht

Behavioural disorders caused by environment – a case report

Der Praktische Tierarzt 103, 24–35

DOI: 10.2376/0032-681X-2203

Eingereicht: 26. Juli 2021

Akzeptiert: 11. November 2021

Publiziert: 01/2022

Zusammenfassung

Der vorliegende Fall berichtet von einer Hundehaltung, bei welcher der betroffene Hund über mehrere Wochen in der Küche einer Wohnung isoliert worden war und dort inmitten von Unrat in einer von seinen Ausscheidungen verunreinigten Umgebung ohne jeglichen Sozialkontakt leben musste. Die Einschränkung seines Verhaltens in sämtlichen Funktionskreisen führte bei dem betroffenen Hund zu einer Verhaltensstörung in Form eines abnorm repetitiven Verhaltens sowie zu einem gestörten Aggressionsverhalten. In der anschließend durchgeführten pathologischen Untersuchung stellten sich zudem hochgradige Entzündungen an der Haut des Hundes dar. Dem Hund wurden durch die Haltung und die damit verbundenen Einschränkungen in der Auslebung seiner natürlichen Verhaltensbedürfnisse daher erhebliche und länger anhaltende Leiden und Schmerzen zugefügt, die schließlich zu einer Euthanasie führten. Der Fall wurde an die Staatsanwaltschaft abgegeben, die Halterin wegen Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz gemäß § 17 Nr. 2b zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt, zudem wurde ein gerichtliches Tierhalte- und Tierbetreuungsverbot verhängt. Durch das zuständige Veterinäramt wurde ein unbefristetes Tierhalte- und Tierbetreuungsverbot nach § 16a Tierschutzgesetz verhängt.

Abnorm repetitives Verhalten
Zwangsstörung
Stereotypie
Tierschutzgesetz

Summary

The present case reports on keeping a dog in which the affected dog was isolated in the kitchen of an apartment for several weeks and had to live there in the midst of rubbish in an environment contaminated by its excrement without any social contact. The restriction of its behavior in all functional areas led to a behavioral disorder in the form of abnormal repetitive behavior and a disturbed aggressive behavior in the affected dog. The pathological examination that was then carried out also showed massive damage to the dog’s skin. The dog was subjected to considerable and prolonged suffering and pain due to environment- associated restrictions in the exercise of its natural behavioral needs, which ultimately led to euthanasia. The case was handed over to the public prosecutor’s office, and the owner was sentenced to a fine of 90 daily rates for violating the Animal Welfare Act in accordance with Section 17 No. 2b. In addition, a judicial ban on keeping animals and caring for animals was imposed. The responsible veterinary office has imposed an unlimited animal keeping and care ban in accordance with Section 16a of the Animal Welfare Act.

abnormal repetitive behaviour
compulsive disorder
stereotypy
animal protection law

Einleitung

Im Bereich der abnorm repetitiven Verhaltensweisen (ARV) werden in der Veterinärmedizin Zwangsstörungen und Stereotypien unterschieden. Die Begriffe Stereotypie, stereotypes Verhalten oder Zwangsverhalten werden dabei unterschiedlich und nicht einheitlich für eine Vielzahl von sogenannten repetitiven Verhaltensweisen verwendet (Luescher 2003). Auch in der Arbeit von Kaulfuß (2011) konnten anhand unterschiedlicher Verhaltenstests keine Rückschlüsse auf eine Klassifizierung von ARV bei Hunden in Zwangsstörungen und Stereotypien gezogen werden. Als Hauptursache derartiger Verhaltensstörungen gelten nach aktuellem Wissensstand inadäquate Haltungsbedingungen und die fehlende Möglichkeit der Anpassung der Tiere an die sie überfordernde Haltungsumwelt. Vorliegende Verhaltensstörungen bei Hunden müssen daher immer im Kontext der zum Zeitpunkt der Entstehung vorliegenden Haltungsbedingungen betrachtet werden. Ferner muss der Hund auf das Vorliegen von erheblichen Leiden auch nach Abstellung der Ursache begutachtet werden. Vorliegend wird von einem Tierschutzfall berichtet, bei dem die Haltungsbedingungen zur Entwicklung einer Verhaltensstörung und schließlich zur Euthanasie des Hundes führten.

Fallbeschreibung

Eine beim zuständigen Veterinäramt eingegangene Tierschutzfallmeldung beschrieb eine Hundehaltung in einer Wohnung, bei welcher der Hund der 28-jährigen Halterin seit mindestens zwei Monaten in der Küche einer Wohnung untergebracht war. Nachdem der Hund in zwei Situationen nach der Halterin geschnappt hatte, habe sie diesen aus Angst wegen ihrer Schwangerschaft dort eingesperrt und seitdem nicht mehr herausgeholt. Der von der Schwester der Hundehalterin erfragte Vorbericht ergab, dass der Hund als ca. acht Wochen alter Welpe zu der Halterin kam. Der Hund, ein Pitbull-Terrier-Mischling, lebte mit der Halterin in engem Kontakt und war laut Aussage der Schwester der Hundehalterin unauffällig gegenüber Menschen. Vor ca. zwei Monaten dann hätte der nun fünfjährige Rüde nach der Halterin geschnappt, als diese ihm befahl, vom Bett herunterzugehen. Als er dann erneut nach ihr schnappte, habe sie ihn aus Angst, weil sie zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger war, in die Küche gesperrt. Dort habe sie ihn dann seitdem nicht mehr rausgeholt. Die Halterin war dann nach einigen Wochen sogar aus der Wohnung ausgezogen und habe den Hund in der alten Wohnung weiterhin in der Küche gehalten und lediglich mit Futter und Wasser versorgt. Alle Auskünfte über den Hund konnten nur von Dritten eingeholt werden, die Halterin selber stand nicht zur Verfügung. Die Vor-Ort-Kontrolle durch die Autorin ergab eine bereits von außen feuchte und klebrige Küchentür, die sich nur schwer öffnen ließ, da von innen bereits Kot und Unrat gegen die Tür drückten. Die Bestandsaufnahme der Küche ergab ein dramatisches Bild der Haltungsumgebung (siehe Abb. 1), die der Hund über mindestens zwei Monate nicht verlassen konnte. Bereits beim Öffnen der Tür war der bestialische Gestank wahrnehmbar. Der Raum konnte zwecks Anfertigung von Fotos immer nur für einige Sekunden betreten werden, innerhalb kürzester Zeit tränten die Augen und brannte der Hals. Der gesamte Raum war voll mit Unrat und Kothaufen, diese türmten sich zentimeterhoch und waren überall verteilt. Eine freie Liegefläche war auf dem Boden nicht vorhanden. In dem vorhandenen Hundekorb befand sich auch Kot, die Wände des Korbes waren mit Kot beschmiert. Der einzige kotfreie Bereich war ein offenstehender Unterschrank, an dem sich auch braune Ränder befanden (siehe Abb. 1). Wasser war zum Zeitpunkt der Kontrolle nicht vorhanden.


Top Job:


Der Hund wurde fortgenommen und zunächst im örtlichen Tierheim untergebracht. Das Fell des Hundes war voller Kot und Urin. An beiden Karpalgelenken war die Haut jeweils in einem kreisrunden Bereich (ca. 1,5 cm Durchmesser) entzündlich verändert und haarlos, die Krallen waren sehr lang und weich. Der Hund zeigte sich bei Ankunft hochgradig verstört und aggressiv, verbiss sich bei dem Versuch des Umsetzens in den Zwinger in eine Stange, ein Handling war nach Angaben der Tierheimleitung kaum möglich. Eine direkte Annäherung durch Menschen war nicht möglich. Auch nach weiteren insgesamt vier Wochen hatte sich das Verhalten des Hundes nicht verändert. Im Tierheim befand sich auch ein im Umgang mit aggressiven Hunden seit Jahren erfahrener Tierpfleger. Dieser äußerte den Verdacht, dass der Hund unter einer erheblichen Verhaltensstörung leide und weiterhin so aggressiv sei, dass eine ungesicherte Annäherung selbst durch bekannte Pfleger unmöglich wäre und daher eine artgerechte Unterbringung kaum möglich sei. Der Hund leide nach seinen Angaben massiv, er lecke die Wände permanent ab, dies zeige er sowohl im Zwinger als auch am Tor im Auslauf. Bedingt durch das hierdurch vermehrte Speicheln trinke er vermehrt. Zusammen mit einer externen Sachverständigen, einer Fachtierärztin für Verhaltenskunde und verhaltenstherapeutisch tätigen Tierärztin, erfolgte eine Begutachtung des Hundes. Hierbei zeigten sich ein auffällig stereotypes Verhalten des Hundes an der Zwingertür sowie ein ebenso auffälliges Aggressionsverhalten mit hochgradig unsicherem Display (maximal zurückgelegte Ohren, maximal zurückgezogene Gesichtsmuskulatur, indirekter Blick gegen Personen) und Eskalationstendenz mit Beißabsicht in verschiedensten Situationen (z. B. freundliche Ansprache, freundliche Ansprache bei Besitz einer Ressource [Tennisball], Ansprechen durch den bekannten Tierpfleger) (siehe Abb. 2 und 3). Die stereotype Verhaltensweise bestand darin, dass der Rüde stehend oder sitzend das Maul auf dem Gitter der Zwingertür aufsetzte und mit dem geöffneten Maul auf dem Gitter minutenlang mit nach innen gekehrtem Blick verharrte (siehe Abb. 4). Nach einigen Minuten fing er an, Türen bzw. die Wand exzessiv abzulecken. Das Maul war hierbei maximal geöffnet und die Zunge hing weit heraus, wenn damit nicht die Wand oder das Gitter abgeleckt wurde (siehe Abb. 4). Es bildete sich eine große Menge von Speichel, der teilweise Blasen unter dem Maul bildete. Das Aggressionsverhalten des Hundes resultierte durchweg aus dessen hochgradiger Verunsicherung. Der Rüde war auch nach Entfernen der fremden Personen und dem Beobachten aus der Distanz durchgehend in einer sehr hohen Erregungslage und zeigte Anzeichen von massivem Stress (permanentes Hecheln, ständige Unruhe, zurückgelegte Ohren, zurückgezogene Gesichtsmuskulatur) sowie das auffällig stereotype Verhalten. Beide Karpalgelenke waren durch eine akrale Leckdermatitis verändert. Das Aggressionsverhalten des Hundes war nicht berechenbar, die Eskalation erfolgte unvorhersehbar. Auch nach den Schilderungen des verantwortlichen Tierpflegers kam der Hund nie zur Ruhe und zeigte die stereotype Verhaltensauffälligkeit häufig und mehrfach über den Tag verteilt. Aus Sicht der hinzugezogenen Sachverständigen waren sowohl die gezeigte stereotype Verhaltensweise als auch das nicht berechenbare Aggressionsverhalten mit erheblichen und länger andauernden Leiden verbunden. Eine Verbesserung war auch durch eine Änderung der Haltungsumstände nicht absehbar, die von der Fachtierärztin gestellte Prognose ungünstig. Die auch in Kombination mit einer medikamentösen Therapie zwingend gebotene Verhaltenstherapie war aufgrund der fehlenden Umgangsmöglichkeiten nicht möglich. Eine weitere Haltung des Hundes wäre für diesen mit nicht behebbarem erheblichem Leid verbunden gewesen. Daher wurde gemäß der Empfehlung der externen Sachverständigen die Entscheidung zur Euthanasie des Hundes getroffen. Nach der Euthanasie wurde der Hund direkt in die Pathologie des Niedersächsischen Landesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit verbracht und einer Sektion unterzogen, direkt nach Euthanasie wurden zudem Blutproben entnommen. Es wurden sowohl bei der Untersuchung der Blutproben als auch bei der Sektion keinerlei Erkrankungen festgestellt, die ursächlich für die stereotypen Verhaltensweisen hätten sein können. Allerdings zeigte die äußere Haut deutliche Zeichen der vorangegangenen, über mehrere Wochen andauernden Unterbringung in den eigenen Exkrementen. Es offenbarten sich vor allem hochgradige Entzündungen an der Haut der Ballen (ulzerative Pododermatitis) der Vordergliedmaßen sowie der linken Hintergliedmaße mit in die Tiefe gehenden Entzündungen und bereits vorliegender Nekrose an den Geweberändern. Analog zur „Windeldermatitis“ des Menschen, bei welcher der wiederholte und längere Kontakt der Haut mit Urin und Kot eine Dermatitis auslöst, ist aufgrund der Haltungsumstände auch im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass die im Kot und Urin enthaltenen Proteasen und Lipasen zu einer Entzündung bzw. Keratolyse der Ballenhaut geführt haben. Zusätzlich wurde eine chronische Bindehautentzündung der Augen festgestellt. Auch diese ist aufgrund der Haltungsumstände mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den extrem erhöhten Ammoniakgehalt der Raumluft zurückzuführen, der bei Betreten des Raumes bei der Verfasserin sofort zu tränenden und brennenden Augen geführt hatte. Die bei Ankunft im Tierheim vorliegenden Hautveränderungen an beiden Karpalgelenken waren noch als typische Aufhellungen des Fells und pathohistologisch als Follikelkeratosen sowie orthokeratotische Hyperkeratosen sichtbar. An der Oberlippe rechts zeigten sich ebenfalls Anzeichen einer ulzerativen Dermatitis, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die vorliegende stereotype Verhaltensweise des Hundes (Aufsetzen des Mauls auf die Türen der Zwinger) zu erklären sind.

Diskussion

Abnorm repetitives Verhalten (ARV)

Stereotypien und Zwangsstörungen werden in der Literatur unter dem Oberbegriff „abnorm repetitives Verhalten“ (ARV) geführt. Nach wie vor ist allerdings vor allem bei Tieren wenig über die zugrunde liegende Pathophysiologie bekannt (Kaulfuß 2011, Tynes und Sinn 2014). In der Humanpsychiatrie werden ARVs gemäß der internationalen Klassifizierung psychischer Störungen in Stereotypien und Zwangsstörungen unterschieden (Kaulfuß 2011). Unter dem Begriff Stereotypie werden repetitive, invariante Verhaltens- bzw. Bewegungsmuster, ausgeführt ohne erkennbare Funktion oder Ziel, subsumiert (Richter 2006, Düpjan und Puppe 2016). Zwangsstörungen hingegen bezeichnen in der Humanmedizin als Unterkategorie der Angststörungen das repetitive Verfolgen eines unangemessenen Ziels mit variablerem Bewegungsablauf (Düpjan und Puppe 2016). Bei Stereotypien werden demnach bestimmte motorische Reaktionen und bei den Zwangsstörungen bestimmte Verhaltensziele abnormal wiederholt. Im Gegensatz zur Humanmedizin existieren in der Veterinärmedizin bisher kaum einheitliche Definitionen und Unterscheidungen in der Diagnostik (Kaulfuß 2011, Tynes und Sinn 2014); eine Diagnosestellung erfolgt anhand sehr unterschiedlicher ethologischer sowie verhaltenstherapeutischer Kriterien (Kaulfuß 2011, Tynes und Sinn 2014). Bei Tieren wurde zunächst der Begriff „(Obsessive) Compulsive Disorders“ (OCD, Zwangsstörungen) geprägt, später dann ohne den Zusatz „obsessive“, weil das bei Menschen bei Zwangsstörungen vorhandene obsessive Gedankengut bei Tieren nicht nachweisbar ist (Bowen und Heath 2005, Tynes und Sinn 2014).

Bei den Stereotypien wird unterschieden zwischen nicht auf ein Objekt bezogenen Leerlaufhandlungen sowie umorientiertem Verhalten, welches auf ein inadäquates Objekt gerichtet ist (Richter 2006, Düpjan und Puppe 2016). Erstere umfassen beispielsweise das Weben bei Pferden oder das Zungenrollen adulter Rinder. Zu Letzterem zählt beispielsweise das Stangenbeißen bei der Sau. Die Grenze zu Zwangshandlungen, die weniger invariant und objektbezogen sind, ist hierbei eher fließend (Düpjan und Puppe 2016).

Übereinstimmend werden in der Literatur inadäquate Haltungsbedingungen und die fehlende Möglichkeit der Anpassung der Tiere an die sie überfordernde Haltungsumwelt als ursächlich angeführt; dies wurde bereits für verschiedenste Tierarten in der Zoo-, Labor-, Heim- und Nutztierhaltung gezeigt (Sambraus 1993, Tschanz 1993, Wechsler 1993, Luescher 2003, Gregory 2004, Richter 2006, Tynes und Sinn 2014, Düpjan und Puppe 2016). Im Laufe der Evolution entwickelte jede Tierart ein Verhaltensrepertoire, welches neben den psychischen und physischen Eigenschaften eine Anpassung der Individuen an eine meist variable Umwelt ermöglicht. Hierfür entwickelte sich ein spezielles Motivationssystem zur Förderung bestimmter Verhaltensweisen für den Selbstaufbau und den Selbsterhalt (Sambraus 1993, Wechsler 1993, Richter 2006, Düpjan und Puppe 2016). In den Haltungsbedingungen der vom Menschen gehaltenen Tiere kommt es jedoch häufig zu Abweichungen von den evolutionären Bedingungen und einer dadurch entstehenden Diskrepanz zwischen dem angeborenen Anpassungsvermögen des Tieres und den durch die Haltungsumwelt gestellten Anforderungen. Die Diskrepanz kann zum einen darin bestehen, dass evolutionär hochmotivierte Verhaltensweisen in der Haltungsumwelt keine Funktion mehr erfüllen (können), wie beispielsweise eine normalerweise kognitiv fordernde und zeitaufwendige Nahrungssuche, die nicht mehr notwendig ist, weil das Futter nicht mehr erarbeitet werden muss. Die Ausübung hochmotivierter Verhaltensweisen wird wiederholt oder permanent verhindert, es ist dem Tier daher nicht möglich, angeborene Verhaltensweisen auszuleben und bei vorhandener Motivation ist die Ausführung der adäquaten Endhandlung nicht möglich (Tschanz 1993, Luescher 2003, Richter 2006, Zeitler-Feicht 2015, Düpjan und Puppe 2016). Es kommt in der Folge zu starker Erregung (arousal) und auf Dauer zu chronischem Stress (Zeitler-Feicht 2015). Die Diskrepanz kann aber auch in fehlenden Verhaltensweisen bzw. Kompetenzen bestehen, weil die Tiere diese evolutionär nicht mitbringen, in der jeweiligen Haltungsumwelt aber benötigen würden (Düpjan und Puppe 2016). Je mehr die Bedingungen, in denen ein Tier untergebracht ist, von den „Umwelterwartungen“ abweichen, desto eher kommt es zu einer Diskrepanz zwischen dem angeborenen Anpassungsrepertoire und den Anforderungen der jeweiligen Haltungsumwelt (Düpjan und Puppe 2016). Wenn nun dauerhaft keine Bewältigung der Umwelt möglich ist, kommt es zu chronischem Stress mit einer dauerhaften Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden(HPA)-Achse und einer reduzierten akuten Reaktionsfähigkeit des Systems (Mills et al. 2014, Düpjan und Puppe 2016). Lang anhaltendes Stressgeschehen und die resultierende chronische Hyperaktivität der HPA-Achse führen zu Belastungen des Zentralnervensystems und in der Folge zur Entwicklung abnormer Verhaltensweisen, wie Stereotypien und Zwangsstörungen (Feddersen-Petersen 2004, Mills et al. 2014, Düpjan und Puppe 2016). Chronischer Stress führt möglicherweise auch erst zur Ausbildung von stereotypem Verhalten, wenn ein weiterer akuter Stressor (z. B. Hunger) hinzukommt. Zusätzlich können besonders traumatische Erfahrungen erst später bzw. länger andauernd zur Ausbildung von ARVs führen (Richter 2006, Zeitler-Feicht 2015, Düpjan und Puppe 2016). So lassen sich in vielen Fällen einschneidende Ereignisse, bezeichnet als „Initialtrauma“, mit dem erstmaligen Auftreten von ARVs in Verbindung bringen, zum Beispiel extreme Haltungsänderungen (z. B. Umstallung von Pferden in Boxenhaltung nach vorangegangener Gruppenhaltung mit Weidegang) (Zeitler-Feicht 2015). ARVs, resultierend aus inadäquaten Haltungsbedingungen, werden auch als reaktive Verhaltensstörungen bezeichnet und sind häufig residualreaktiv, bleiben also auch nach Änderung der Haltungsbedingungen bestehen (Zeitler-Feicht 2015).

Auf der Suche nach den das jeweilige Verhalten auslösenden Reizen wird von den Tieren zunächst Appetenzverhalten gezeigt. Bei permanentem Fehlen der Reize wird das Verhalten auf Ersatzobjekte umgerichtet oder als Leerlaufhandlung geäußert. Im anfänglichen Versuch einer Adaptation entsteht zunächst Auslöser-bezogenes Verhalten, welches sich mit Andauern der Frustration bzw. des Konfliktes/der Diskrepanz der Haltungsbedingungen emanzipiert, sodass dieses Verhalten auch unabhängig vom ursprünglichen Auslöser und mehrfach hintereinander wiederholt wird („Emanzipation“) (Luescher 2003, Kaulfuß 2011, Düpjan und Puppe 2016).
Eine lang anhaltende Frustration essenzieller Bedürfnisse und lange andauernde hohe Erregungslagen durch dauerhafte Stressoren, Ängste oder Konfliktsituationen können zu einer Zunahme der Frequenz, Dauer und Gleichförmigkeit des gezeigten Verhaltens führen und sich Laufe der Zeit zu einer stereotypen Verhaltensweise weiterentwickeln (Luescher 2003, Richter 2006, Kaulfuß 2011). Hierbei kommt es meist auch zu einer Vereinfachung bzw. Verkürzung des eigentlichen Verhaltensablaufs mit der Folge einer Minimierung der Variabilität in Form und Orientierung (Luescher 2003, Düpjan und Puppe 2016). Zudem kann das Verhalten auch in anderen Kontexten und auf einem niedrigeren Erregungslevel ausgelöst werden (Luescher 2003). Das eigentliche Verhaltensmuster bzw. der eigentliche Ablauf können danach unter Umständen gar nicht mehr erkannt werden, so auch dessen Herkunft aus dem entsprechenden Funktionskreis. Im Laufe der Zeit kommt es auch zu einer Perseveration, das heißt zu einem Verlust der Verhaltenssteuerung (Luescher 2003, Kaulfuß 2011, Düpjan und Puppe 2016).

Bei verschiedenen Tierarten sowie einigen Hunde- und Katzenrassen wurde zudem eine genetische Prädisposition bereits umfangreich dokumentiert (Luescher 2003, Kaulfuß 2011, Tynes und Sinn 2014).

Die genaue Ätiologie von ARVs ist sowohl bei Menschen als auch bei Tieren in weiten Bereichen ungeklärt, so existieren noch viele Fragen hinsichtlich Motivation sowie neurophysiologischem Hintergrund. Die oben beschriebenen inadäquaten Haltungsbedingungen können letztlich zu neuropathologischen Veränderungen führen. Dysfunktionen verschiedener ZNS-Areale und die daraus resultierenden unterschiedlichen Beeinträchtigungen in der Verhaltenssteuerung deuten dabei auf Unterschiede zwischen Stereotypien und Zwangsstörungen hin (Kaulfuß 2011). Während bei Ersteren hauptsächlich Störungen im Bereich der Basalganglien diskutiert werden, werden Zwangsstörungen mit Veränderungen im präfrontalen Kortex in Verbindung gebracht. Beide Gehirnareale sind an der Steuerung von Verhalten beteiligt. So werden in den Basalganglien motorische Reaktionen verarbeitet, im präfrontalen Kortex hingegen Verhaltensplanungen (Auswahl von Verhaltensweisen sowie Verhaltenskorrekturen). Durch die Schädigung der entsprechenden Areale treten spezifische Beeinträchtigungen in der Verhaltenssteuerung mit weitreichenden Funktionsstörungen bei der Aktivierung, Inhibition und Kontrolle von Verhaltensweisen auf. Infolge von Dysfunktionen der Verhaltenssteuerung kommt es zu typischen Verhaltensmustern, gekennzeichnet durch das Wiederholen von Bewegungen oder Handlungsabläufen (Perseveration) (Kaulfuß 2011).

Bisher wurden verschiedene Neurotransmittersysteme mit der Entwicklung von ARVs in Verbindung gebracht, vor allem das Opioid-vermittelte System sowie dopaminerge, serotonerge und glutaminerge Systeme (Luescher 2003, Richter 2006, Kaulfuß 2011, Tynes und Sinn 2014). Neben der Beteiligung von Opiaten, Glutamat und γ-Aminobuttersäure (GABA) werden für Stereotypien hauptsächlich Veränderungen im Dopaminmetabolismus beobachtet. Diese beinhalten die Überproduktion, Fehlfunktionen im Rückkopplungsmechanismus oder Veränderungen der Dichte bzw. der Sensitivität der Dopamin-Rezeptoren (Kaulfuß 2011). Im Gegensatz dazu stehen bei den Zwangsstörungen vor allem Veränderungen des Serotoninstoffwechsels im Mittelpunkt, wobei auch eine Beteiligung des GABAergen, dopaminergen sowie noradrenergen Systems nicht ausgeschlossen werden kann. Die strukturellen Veränderungen im Gehirn führen häufig zum lebenslangen Bestehen von ARVs, auch wenn die Haltungsumstände optimiert worden sind (Richter 2006, Zeitler-Feicht 2015).

Im Gegensatz zu früheren Studien und Annahmen, dass ARVs immer zu einer Erregungsreduzierung und dauerhaft zu einem Bewältigen (coping) der Konfliktsituation führen, geht man heute davon aus, dass dieses Coping nur im Anfangsstadium stattfindet und im Stadium der manifesten Verhaltensstörung nicht mehr vorhanden ist (Zeitler-Feicht 2015).

Differenzialdiagnostisch bzw. ursächlich immer abzuklären sind insbesondere Erkrankungen im Bereich des Nervensystems sowie Störungen anderer Organsysteme, die zu neurologischen Veränderungen führen können (Tynes und Sinn 2014).

ARVs beim Hund

Für den Hund konnten bisher bereits einige Rassen mit gehäuftem Auftreten bestimmter ARVs in Verbindung gebracht werden, was den Schluss einer genetischen Prädisposition zulässt (z. B. Anstarren von Schatten oder Jagen von Lichtreflexen bei Border Collies, Flankensaugen beim Dobermann, Jagen der eigenen Rute bei Schäferhunden) (Luescher 2003, Bowen und Heath 2005, Kaulfuß 2011). Die genetische Prädisposition kann aber auch darin bestehen, dass (genetisch prädisponierende) medizinische Ursachen zugrunde liegen und als Auslöser für die Entwicklung der ARVs fungieren. So können Allergien, metabolische Erkrankungen, Neuropathien oder Dermatosen das entsprechende Verhalten auslösen (z. B. anhaltendes Lecken von Körperteilen) und sich dann eigenständig und unabhängig von der zugrunde liegenden Erkrankung etablieren (Luescher 2003, Kaulfuß 2011). Zur Beteiligung medizinischer Ursachen existiert eine Studie, veröffentlicht im Jahr 2012, nach der gastrointestinale Störungen beim Hund eine Rolle spielen für den Komplex der „excessive licking of surfaces“ (ELS), dem exzessiven Belecken von Oberflächen (Becuwe-Bonnet et al. 2012, Frank 2013). Hinzu kommen eventuell bestärkendes Verhalten durch den Besitzer oder aber mögliche sekundäre Erkrankungen (z. B. Entzündungen) sowie gegebenenfalls Schmerzen, die das Verhalten weiter aufrechterhalten (Luescher 2003, Bowen und Heath 2005, Kaulfuß 2011).

Bisher sind verschiedene ARVs bei Hunden beobachtet bzw. nach bestimmten Kriterien klassifiziert worden (Luescher 2003, Bowen und Heath 2005, Kaulfuß 2011):

Aggressiv

  • Angreifen des Futternapfes/von imaginären Objekten
  • Selbstgerichtete Aggression
  • Unvorhersehbare Aggression

Halluzinatorisch

  • Aufschrecken
  • Schatten anstarren

Lokomotorisch

  • Auf etwas herabstürzen
  • Auf- und Ablaufen
  • Erstarren
  • Kreiseln
  • Lichtreflexe jagen
  • Rute jagen

Oral

  • An Gliedmaßen kauen
  • An der Flanke saugen
  • Imaginäre Fliegen schnappen
  • Objekte ablecken oder ankauen
  • Sich selbst lecken (Leckdermatitis)

Vokalisierend

  • Anhaltendes Bellen
  • Rhythmisches Jaulen

Die eingangs erwähnten Klassifizierungsschwierigkeiten betreffen auch den Hund, es erfolgt keine klare und stringente Unterscheidung von Zwangsstörungen und Stereotypien (Kaulfuß 2011, Tynes und Sinn 2014). Die Bezeichnungen werden sehr uneinheitlich und nicht konsistent verwendet. Das Kreiseln beim Hund wird je nach Autor als Stereotypie oder als Zwangsstörung bezeichnet (Kaulfuß 2011). Auch wird das Ablecken von Objekten entweder als Stereotypie oder als Zwangsstörung eingestuft. Auch Überschneidungen sind möglich. Die akrale Leckdermatitis wird hingegen meist und übereinstimmend als Zwangsstörung eingestuft (Bowen und Heath 2005, Kaulfuß 2011).

Analog zu stereotypen Verhaltensweisen wurde zunächst der Terminus „zwanghaftes Verhalten“ (compulsive disorder, CD) beim Hund geprägt, nachdem für bestimmte beobachtete Verhaltensauffälligkeiten die Definition der Stereotypien nicht passte, weil es sich nicht um Veränderungen im Bewegungsverhalten handelte. Es handelte sich hierbei ursprünglich um Verhaltensauffälligkeiten wie wiederholtes Vokalisieren, Lecken, Selbstverletzung und statisches kontinuierliches Verhalten wie Starren in den Raum oder das Halten eines Objektes oder Körperteiles im Maul. Später wurde der Begriff für alle zwanghaft erscheinenden Verhaltensweisen genutzt. Es handelt sich um eine Ausschlussdiagnose und immer um ein „Syndrom“, also einen Komplex aus mehreren charakteristischen Symptomen. Beim Menschen wurde ein Zusammenhang zur Dysregulation des serotonergen Transmittersystems festgestellt. Jegliches zwanghaftes Verhalten erwächst beim Menschen aus dem Wunsch nach Kontrolle, Sicherheit und Beruhigung der obsessiven Gedanken und es kommt zur Entwicklung typischer Rituale. Vergleichbar hierzu werden entsprechende repetitive Verhaltensweisen auch beim Tier als CD bezeichnet, ohne den Zusatz „obsessive“, da entsprechendes Gedankengut bei Tieren nicht existieren dürfte. Es existieren eine Reihe von Theorien, wie es zur Entwicklung von CDs bei Tieren kommen kann. Häufig steht hierbei die Möglichkeit des Umgangs des Individuums mit Erregungszuständen sowie der Anspannung bei Erwartungen im Vordergrund. Es handelt sich um normale psychologische Zustände, die mit negativen oder positiven Emotionen verbunden sein können. In Erwartung einer Bedrohung oder einer Gefahr kommt es zu negativen Emotionen und der Empfindung von Furcht. Auch die fehlende oder anders als erwartet ausfallende Belohnung führen insbesondere in Verbindung mit einer hohen Erregungslage zu negativen Emotionen, die resultierende Empfindung ist Frustration. Frustration und Furcht sind im Grundsatz sehr ähnliche emotionale Zustände, die beide negative emotionale Erfahrungen, verbunden mit Angstgefühlen, beinhalten. CDs scheinen sich zu entwickeln, wenn der Hund die Erfahrung macht, dass ein häufig wiederholtes bestimmtes Ritual bzw. Verhalten zu einem Nachlassen der als negativ empfundenen anhaltenden Erregung und damit zumindest im Anfangsstadium zu Erleichterung führt. Häufig handelt es sich um Verhaltensweisen, für die bereits eine hohe Motivation vorhanden ist. Der Hund macht die Erfahrung, dass das zwanghafte Verhalten schneller und verlässlicher eine Flucht bzw. einen Ausweg aus den extrem negativen Emotionen bietet. Die Schwelle, mit der das Verhalten ausgelöst wird, wird immer geringer und das Tier scheint die Kontrolle darüber zu verlieren, selbst zu entscheiden, ob es das Verhalten ausführt. Wiederholtes Ausführen führt dann zu einem zuverlässigen Abbau der Empfindungen, sodass hieraus eine Art Suchtverhalten resultiert, welches sich verselbstständigt (Bowen und Heath 2005).

Vor der Diagnosestellung einer CD müssen auch beim Hund immer eventuell zugrunde liegende Erkrankungen verschiedener Organsysteme ausgeschlossen werden, wie beispielsweise kognitive Demenz, Epilepsie, portosystemischer Shunt oder neurologische Auffälligkeiten (Sensitivitätsverlust), oder aber entsprechende Krankheitsbilder, die das entsprechende Verhalten bzw. die zugrunde liegenden Emotionen verursachen (z. B. Schilddrüsenerkrankungen, neurologische Erkrankungen). Zusätzlich ist der Einfluss von erlerntem Verhalten im Sinne eines aufmerksamkeitsheischenden Verhaltens zu berücksichtigen (Bowen und Heath 2005, Kaulfuß 2011, Tynes und Sinn 2014).

„Soziale Isolation“ beim Hund

Domestikationsbedingt bevorzugt der Hund mittlerweile in der Regel den Menschen als Sozialpartner gegenüber anderen Hunden (Feddersen-Petersen 2004, Miklósi 2011, Gansloßer und Kitchenham 2012). Soziale Isolation in Form einer plötzlichen Trennung von seinem Sozialpartner, wie es im vorliegenden Fallbericht geschah, wiegt daher umso schwerer. Beim Hund ist demnach bei der Betrachtung von Stressreaktionen besonders psychosozialer Stress zu berücksichtigen (Feddersen-Petersen 2004). Kann die Situation durch die akute und lang anhaltende Stressreaktion nicht kontrolliert werden, kommt es zu einer Erschöpfung der Anpassungsfähigkeit und zu einer erlernten Hilflosigkeit. Eine andauernde Aktivierung der Kortikosteroid-Produktion führt auf Dauer zu einer Erschöpfung beteiligter Neutransmitter (v. a. Serotonin und Dopamin) und kann als Einstieg in eine hirnphysiologisch verankerte Depression gewertet werden. Es kommt zu einer Überforderung, wenn die üblichen Verarbeitungsmechanismen versagen und unangenehme Ereignisse nicht verhindert oder deren Folgen beseitigt werden können und eine Flucht unmöglich erscheint (Feddersen-Petersen 2004). Für Hunde ist in für sie beängstigenden Situationen die soziale Unterstützung des Menschen als Hilfe im Sinne eines „social support“ wichtig (Feddersen-Petersen 2004, del Amo 2020). Können akute Ängste nicht abgebaut werden bzw. macht der Hund nun die Erfahrung, dass seine belastende Situation nicht durch eigene Reaktionen beendet werden kann, resultiert hieraus erhebliches Leiden. Das fehlende Vermögen von Hunden, sich mittels Reizwahrnehmung und Verhalten im Rahmen der genetisch vorgegebenen Anpassungsfähigkeit mit den jeweiligen Haltungsbedingungen auseinanderzusetzen, führt zu chronischem Stress und damit zu physiologischen Veränderungen sowie zu Verhaltensänderungen, die Feddersen-Petersen (2004) folgendermaßen auflistet und beschreibt:

„(…) Apathie, Erstarren, unvorhersehbare Aggressivität sowie Selbstverstümmelung. Die Tiere sind unruhig und haben Angst, sind durch defensive Ausdrucksmerkmale gekennzeichnet (niedrige Körperhaltung, angelegte Ohren, Blickvermeidung), zeigen Fluchttendenz und plötzliches Angriffsverhalten bei Unterschreitung einer kritischen Distanz. Die ständige Unangepasstheit an ihre Lebensumstände, die anhaltende diffuse Erwartung eines Unheils (Angst) ist als Zustand des erheblichen Leidens zu werten.“

Studien auf dem Gebiet der affektiven Neurowissenschaften zeigen zudem, dass die an der Schmerzverarbeitung beteiligten
Hirnbereiche ebenfalls an der Entstehung der Emotionen nach sozialer Isolation beteiligt und demzufolge Empfindungen gleich denen bei echtem physischem Schmerz anzunehmen sind (Panksepp 2005).

Strafbare quälerische Tiermisshandlung (§ 17 Nr. 2b des Tierschutzgesetzes)

Länger anhaltende erhebliche Leiden im Sinne des Tierschutzgesetzes

Gemäß § 17 Nr. 2b Tierschutzgesetz wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer „einem Wirbeltier länger anhaltende oder sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden zufügt“ (strafbare quälerische Tiermisshandlung). Leiden sind grundsätzlich alle „nicht bereits vom Begriff des Schmerzes umfassten Beeinträchtigungen im Wohlbefinden, die über ein schlichtes Unbehagen hinausgehen und eine nicht ganz unwesentliche Zeitspanne fortdauern“ (Hirt et al. 2016, § 1 Rd. 19). Diese Definition ist mittlerweile in der allgemeinen Rechtsprechung und Literatur anerkannt. Ein wichtiges Anzeichen von Wohlbefinden ist neben der Gesundheit ein in jeder Beziehung normales Verhalten, welches einen ungestörten, verhaltensgerechten und artgemäßen Ablauf der Lebensvorgänge voraussetzt. Mit dem Merkmal „erheblich“ sollen Bagatellfälle abgegrenzt und nur Fälle betrachtet werden, in denen Tieren „mehr als geringfügige Schmerzen oder Leiden zugefügt werden“. Erheblich sind demnach „nach Art, Umfang und Schwere“ nicht völlig unwesentliche Beeinträchtigungen (Hirt et al. 2016, § 17 Rd. 88). Treten Verhaltensstörungen aufgrund von inadäquaten Haltungsbedingungen auf, sind diese immer Ausdruck einer Überforderung des Anpassungsvermögens des Tieres und damit Ausdruck erheblichen Leidens (Hirt et al. 2016, § 17 Rd. 91, Rd. 101). Zusätzlich kann bereits aus dem bloßen Ausmaß der Verhaltensrestriktionen, denen das Tier unterworfen wird, auf erhebliche Leiden geschlossen werden. Je stärker demnach ein angeborener Verhaltensablauf durch eine Haltungsform oder sonstige Einwirkung unterdrückt bzw. zurückgedrängt wird, desto eher ist eine Erheblichkeit des Leidens anzunehmen, vor allem, wenn mehrere Verhaltensbedürfnisse oder Bedürfnisse aus mehreren Funktionskreisen betroffen sind (Hirt et al. 2016, § 17 Rd. 109). In der richterlichen Praxis sind insbesondere Verhaltensstörungen die wichtigsten Indikatoren zur Feststellung erheblicher Leiden in Tierhaltungen (Hirt et al. 2016, § 17 Rd. 97). Mit dem Merkmal „länger anhaltend“ sollen von der Dauer her nur kurzfristige Störungen des Wohlbefindens ausgeschlossen werden, sodass eine mäßige Zeitspanne ausreichend ist zur Verwirklichung des Tatbestandsmerkmals „länger anhaltend“. Hierbei ist es wichtig, dass nicht auf das Zeitempfinden des Menschen abgestellt wird, sondern auf das deutlich geringere Vermögen von Tieren, „physischem oder psychischem Druck standhalten zu können“. Daher reichen unter Umständen schon wenige Minuten, um den Tatbestand „länger anhaltend“ zu erfüllen (Hirt et al. 2016, § 17 Rd. 92).

Bewertung des vorliegenden Falles

Im vorliegenden Fall ist von einem komplexen ARV auszugehen. Eine Einordnung als Zwangsstörung bzw. als Stereotypie ist nicht möglich, da eindeutige Diagnosekriterien nach wie vor nicht existieren und die Übergänge fließend sind. Gemäß der zusammenfassenden Unterteilung nach Bowen und Heath (2005) liegt der Verdacht auf ein orales ARV vor, welches im exzessiven Belecken von Oberflächen sowie Belecken der eigenen Gliedmaßen (hier v. a. Karpalgelenke) besteht. Sowohl die vermutete Genese für Stereotypien als auch die der Zwangsstörungen finden sich im aktuellen Fall wieder. So war die plötzliche Haltungsumgebungsänderung mit der extremen Isolierung des Hundes derart gravierend, dass keine der angeborenen Verhaltensweisen des Hundes mehr adäquat ausgelebt werden konnte. Es ist davon auszugehen, dass die Belastung derart traumatisch war, dass sie im Sinne eines „Initialtraumas“ nach Zeitler-Feicht (2015) ausreichte, die Verhaltensstörung erstmalig auftreten zu lassen. Aufgrund der mit den Haltungsbedingungen verbundenen Frustration sowie der fehlenden Möglichkeit, der Situation zu entkommen, ist davon auszugehen, dass das zwanghafte Verhalten im Anfangsstadium zu einer schnellen emotionalen Erleichterung geführt hat. Da die Ballen des Hundes durch den im gesamten Aufenthaltsbereich vorhandenen aggressiven Urin und Kot hochgradig entzündet waren, könnten die so entstandenen schmerzhaften Prozesse an den Pfoten ein Belecken derselben als zwanghafte Verhaltensweise begünstigt haben. Möglicherweise spielte auch eine mangelhafte Wasserversorgung eine Rolle, da bei der amtlichen Kontrolle kein Wasser vorgefunden werden konnte. In der pathologisch-histologischen Untersuchung fanden sich zwar keine Hinweise auf einen länger vorliegenden Wassermangel. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass immer wieder auftretender kurzzeitiger Wassermangel zur Entstehung der stereotypen Verhaltensweise des Beleckens von Oberflächen beigetragen hat. Auch das gestört aggressive Verhalten ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die traumatischen Umstände der Haltung zurückzuführen und wäre damit ebenfalls als Verhaltensstörung zu werten. Bereits vor der Isolation und in der „normalen Haltungsumgebung“ des Rüden hatte dieser vorberichtlich Aggressionsverhalten gezeigt. Das im Tierheim gezeigte Aggressionsverhalten kam durchweg aus der Unsicherheit heraus. In der für den Hund ausweglosen Isolation könnte die Erfahrung der Ausweglosigkeit, nämlich dass keinerlei aktives Verhalten etwas an der Situation ändern kann, im Sinne einer erlernten Hilflosigkeit auch zu der vorliegenden Störung im Aggressionsverhalten geführt haben. Einschränkend muss hier aber festgestellt werden, dass die dafür notwendige ausführliche Anamnese des aggressiven Verhaltens nicht mehr möglich war und auch das Ausdrucksverhalten des Hundes in der Aggression gegenüber der Besitzerin nicht bekannt ist. Ob die traumatischen Umstände der Haltung allein zu der Störung im Aggressionsverhalten geführt haben, kann daher nicht mehr mit Sicherheit abgeleitet werden. Es bleibt aber festzustellen, dass das Bild des Hundes in Verhalten (inkl. des gezeigten Ausdrucksverhaltens im Aggressionsverhalten im Tierheim) und in körperlichem Zustand (Anzeichen einer „Selbstverstümmelung“) exakt dem von Feddersen-Petersen (2004) beschriebenen Bild von Hunden in erlernter Hilflosigkeit und insbesondere nach sozialer Isolation entspricht. Sowohl aufgrund der vorgefundenen Haltungsumstände als auch aufgrund des Zustandes des Hundes ergab sich der Verdacht einer Straftat nach § 17 Nr. 2b Tierschutzgesetz. Durch den mindestens acht Wochen andauernden Verbleib des Hundes innerhalb der Küche ohne Kontakt zu Sozialpartnern und ohne Sichtkontakt nach draußen sowie ohne Reinigung und Entfernung von Kot und Urin waren sämtliche artgemäßen Verhaltensabläufe des Hundes faktisch über einen längeren Zeitraum nicht mehr auslebbar. Hierzu gehörten vor allem das Bewegungsverhalten, das Sozialverhalten, das Komfortverhalten (eigene Körperpflege), das Ruheverhalten (Liegen auf trockenen und sauberen Flächen), das Eliminationsverhalten (Bedürfnis, Kot- und Urinplätze von Futter- und Ruheplätzen zu trennen) sowie das Erkundungsverhalten. Besonders schwer wiegt die Einschränkung im Sozialverhalten für ein hochsoziales Lebewesen wie den Hund. Hinzu kommt, dass der Hund vorberichtlich vor dieser Zeit mit seiner Halterin eng zusammengelebt hatte, daher den menschlichen Kontakt in dieser intensiven Form gewohnt war. Die Möglichkeit des Hundes, seine natürlichen Verhaltensweisen auszuleben, war hierdurch derart erheblich eingeschränkt, dass erhebliche und länger anhaltende Leiden im Sinne des § 17 Tierschutzgesetz vorlagen. Die Folgen dieser Verhaltensrestriktionen zeigten sich schließlich sogar in der vorliegenden Verhaltensstörung. Zusätzlich kam es zu einer erheblichen Ammoniakbelastung sowie Belastung durch den langen Aufenthalt im eigenen Kot und Urin. Der von Kot und Urin ausgehende Ammoniakgehalt war bereits für die menschliche Nase auf einer Höhe von ca. 1,75 m bei der Vor-Ort-Kontrolle kaum auszuhalten, für einen Hund mit seinem sehr ausgeprägten und feinen Geruchssinn ist zu vermuten, dass sich diese Beeinträchtigung noch potenziert. Das wochenlange Laufen und Liegen auf den Flächen voll mit Kot und Urin führten zudem auch zu erheblichen und länger andauernden Schmerzen und Leiden im Sinne des § 17 Nr. 2b Tierschutzgesetz am Körper des Hundes. Wegen des Verdachts einer Straftat nach § 17 Nr. 2b des Tierschutzgesetzes wurde der Fall an die zuständige Staatsanwaltschaft abgegeben. Durch das zuständige Amtsgericht wurde die Halterin zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt. Durch die Veterinärbehörde wurde ein unbefristetes Tierhalte- und Tierbetreuungsverbot nach § 16a Tierschutzgesetz verhängt.

Fazit für die Praxis

Die gravierend tierschutzrelevanten Haltungsbedingungen haben im vorliegenden Fall zur Entwicklung einer Verhaltensstörung in Form eines abnorm repetitiven Verhaltens sowie möglicherweise auch eines gestörten Aggressionsverhaltens und schließlich zur Euthanasie des Hundes geführt. Durch die Unterdrückung essenzieller Verhaltensbedürfnisse sowie die vorgefundenen körperlichen Schäden an der Haut des Hundes wurden dem Hund länger anhaltende Leiden und Schmerzen im Sinne des § 17 Nr. 2b des Tierschutzgesetzes zugefügt.

Ethische Anerkennung

Die Autorin versichert, während des Entstehens der vorliegenden Arbeit die allgemeingültigen Regeln Guter Wissenschaftlicher Praxis befolgt zu haben.

Interessenkonflikt

Die Autorin versichert, dass keine geschützten, beruflichen oder anderweitigen persönlichen Interessen an einem Produkt oder einer Firma bestehen, welche die in dieser Veröffentlichung genannten Inhalte oder Meinungen beeinflussen könnten.

Finanzierung

Nicht zutreffend.

Über die Autorin: Katja Riedel

Fachtierärztin für öffentliches Veterinärwesen. Studium der Biochemie (2001–2008) und der Veterinärmedizin (2004–2011) in Hannover. Von 2011 bis 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Tierschutz und Verhalten der Tierärztlichen Hochschule Hannover, Promotion zum Thema „Niedersächsischer Wesenstest“. Von 2014 bis 2016 Veterinärreferendariat und Amtstierärztin im Landkreis Göttingen. Anschließend bis 2021 als Amtstierärztin in der Region Hannover tätig. Seit August 2021 Amtstierärztin beim Landkreis Gifhorn.

Korrespondenzadresse: Dr. Katja Riedel, Landkreis Gifhorn, Fachbereich Ordnung, Verkehr und Veterinärwesen, Abteilung Veterinärwesen, Schlossplatz 1, 38518 Gifhorn, riedel@gifhorn.de

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