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Die Milchkuh und ihr Kalb

Die Trennung neugeborener Kälber von ihren Müttern ist in der Milchwirtschaft gängige Praxis und wird wenig hinterfragt. Dabei spricht einiges dafür, diese Maßnahme zu überdenken.

Ein Autorenteam aus England und Kanada hat alle verfügbaren englischsprachigen Publikationen von wissenschaftlichen Studien durchgekämmt, die sich mit den Auswirkungen der Trennung von Kuh und Kalb befassen. Aus diesem Projekt sind zwei Übersichtsartikel hervorgegangen. Der eine beleuchtet Auswirkungen auf die Gesundheit (J Dairy Sci 102: 5784–5810), der andere beleuchtet Verhalten, Tierwohl und Leistung von Kuh und Kalb (J Dairy Sci 102: 5765–5783).

Es zeigt sich ein heterogenes Bild, teils aufgrund schlecht vergleichbarer Studiendesigns oder handwerklicher Fehler in der Studiendurchführung, teils auch, weil wichtige Fragen noch überhaupt nicht wissenschaftlich angegangen wurden. Dennoch sind einige Ergebnisse herausgekommen, die neugierig machen und auch in der Diskussion mit aufgeschlossenen Landwirten einen Platz finden können.

Gesundheit der Kälber
Hier lag der Schwerpunkt auf der Darmgesundheit (Durchfall, Kryptosporidiose und Paratuberkulose), Atemwegserkrankungen, Immunsystem und Mortalität. Unter dem Strich sprachen die Daten nicht für eine frühe Trennung von Kuh und Kalb. Für Pneumonien ergaben die Studien kein erhöhtes Risiko für Kälber mit Mutterkontakt. Für Durchfall ergab die Mehrzahl der Studien keinen Einfluss oder sogar ein verringertes Risiko für Kälber mit Mutterkontakt. Allerdings ließen die Daten keine Differenzierung zwischen ernährungsbedingten und infektionsbedingten Durchfällen zu. Für die Paratuberkulose war die Lage ebenso klar: Bei guter Hygiene ist ein Kontakt zur Mutter nach der Geburt nicht automatisch mit dem „Kontakt mit Ausscheidung adulter Rinder“ gleichzusetzen, vor dem hinsichtlich dieser Erkrankung gewarnt wird. Die Autoren empfehlen, die diversen Hygiene- Stellschrauben zu optimieren, anstatt gleich auf die Trennung von Kuh und Kalb zu setzen, und fordern eine bessere wissenschaftliche Untersuchung dieses Themenkomplexes in Abhängigkeit von der Herdenprävalenz des Erregers. Für die Immunität und die Mortalität waren die publizierten Studien so heterogen, dass keine Klarheit zu erzielen war. Das lag vor allem an handwerklichen Schwachstellen dieser Studien: Entweder wurde den mutterfern aufgezogenen Kälbern keine adäquate Fütterung angeboten oder die Milchaufnahme der säugenden Kälber nicht adäquat überwacht.

Gesundheit der Kühe
Die Studien ergaben keine Anhaltspunkte dafür, dass Kühe gesünder sind, wenn man die Kälber wegnimmt. Insbesondere für die Mastitis zeigten alle Studien entweder ein verringertes Risiko, wenn das Kalb säugen durfte, oder keinen Risikounterschied. Ein Management, das dem Kalb begrenzen Zugang zum Euter der Mutter ermöglicht, ist diesen Daten zufolge als Baustein in der Mastitisprophylaxe durchaus Erfolg versprechend. Als „Wirkprinzip“ werden das Leertrinken des Euters sowie antibakteriell wirkendes Lysozym im Speichel der Kälber diskutiert. Für andere postpartale Krankheitsbilder wie Metritis, Nachgeburtsverhalten und Ketose fanden die Autoren so gut wie gar keine Studien. Eine einzige Studie (von 1990) belegt ein verringertes Risiko für Nachgeburtsverhalten bei Kühen, die ihre Kälber säugen – was möglicherweise zu der geringeren Prävalenz dieser Erkrankung bei Fleischrindern beiträgt. Man würde sich hier auf jeden Fall mehr Studien wünschen!

Verhalten
Für den unmittelbaren Trennungsschmerz scheint eine Trennung am ersten Lebenstag vorteilhaft zu sein: Sie löst bei Kuh und Kalb deutlich weniger Unruhe und Lautäußerungen aus als eine spätere Trennung. Eine Studie ergab, dass eine Trennung an Tag 25 stärkere Aufregung auslöste als an Tag 45; allerdings hatte die Studie methodische Schwächen. Für das Sozialverhalten der Kälber hatte, der großen Mehrzahl der Studien zufolge, ein Aufwachsen bei der Mutter positive Auswirkungen. Allerdings scheint sich das Aufwachsen in einer Kälbergruppe ebenso positiv auszuwirken. Abnormales Verhalten (Saugen an unpassenden Gegenständen oder leeren Milcheimern, Zungenrollen) war bei Kälbern, die vollen Kontakt mit der Mutter hatten und säugen durften, seltener als bei mutterfern aufgezogenen Kälbern – und das auch noch nach dem Absetzen. Für die Stressresistenz von Kuh und Kalb ergaben sich keine eindeutigen Ergebnisse. In einigen Publikationen wurde das Verhalten von Tieren, die mit der Mutter aufgewachsen waren, in späteren Lebensphasen als etwas scheuer und weniger duldsam beschrieben, doch die Datenlage ist dünn.

Leistung
Die Milchmenge, die zum Melken zur Verfügung steht, wurde einigen Studien zufolge durch das säugende Kalb gemindert. Allerdings geben ebenso viele Studien eine Steigerung der Milchmenge an. Nach dem Absetzen stand die volle Milchmenge wieder zur Verfügung. Die Autoren geben zu bedenken, dass dem wirtschaftlichen „Verlust“ durch die vom Kalb getrunkene Milch der Preis entgegensteht, der andernfalls für die Fütterung dieses Kalbes zu zahlen gewesen wäre. Das Wachstum gesäugter Kälber war dem von mutterfern aufgezogenen Kälbern überlegen. Nach dem Absetzen wuchsen diese Kälber zwar manchmal einige Wochen lang schlechter, doch der Vorsprung gegenüber den mutterfern aufgezogenen Artgenossen blieb trotzdem über Monate erhalten. Dieser Befund hat angesichts der Bedeutung der frühen Wachstumsphase für die spätere Leistung im wahrsten Sinne des Wortes Gewicht.

Fazit
Die verfügbaren Studien waren zu heterogen, um konkrete Empfehlungen für die Haltung abzuleiten. Doch eine sehr wichtige Schlussfolgerung kann man ziehen: Für eine frühe Trennung von Kuh und Kalb gibt es nach dem Stand der Wissenschaft keinen vernünftigen Grund.


Originalpublikationen:
Beaver A, Meagher RK, von Keyserlingk MAG, Weary DM (2019): Invited review: A systematic review of the effects of early separation on dairy cow and calf health. J Dairy Sci 102: 5784–5810.
DOI 10.3168/jds.2018-15603.

Meagher RK, Beaver A, Weary DM, von Keyserlingk MAG (2019): Invited review: A systematic review of the effects of prolonged cow-calf contact on behavior, welfare, and productivity. J Dairy Sci 102: 5765–5783.
DOI 10.3168/jds.2018-16021.

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