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Ein sicherer, langfristiger Platz und gute Versorgung: Das braucht jedes Pferd – aber immer mehr Halter kommen finanziell an ihre Grenzen.
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Ein sicherer, langfristiger Platz und gute Versorgung: Das braucht jedes Pferd – aber immer mehr Halter kommen finanziell an ihre Grenzen.

Wirtschaftskrise

Letzte Zuflucht Pferdeklappe

Wer schon vor der Inflation sein eigenes Pferd kaum finanzieren konnte, geriet 2022 noch mehr unter Druck. Ein Verein in Schleswig-Holstein hilft, indem er die Pferde verarmter Halter aufnimmt. Gründerin Petra Teegen berichtet über ein turbulentes Jahr.

Stallmieten, Heupreise, Tierarztgebühren – alles steigt, und viele Pferdehalter kommen angesichts der Wirtschaftskrise an ihre finanziellen Grenzen. Seit 2013 hilft ein Verein ganz im Norden Deutschlands Pferdebesitzern, die verarmt, krank oder überfordert sind und die Versorgung ihres Tieres selbst nicht mehr sicherstellen können. Falls Scham bei alldem das größte Problem ist, müssen die Tierhalter sie nicht einmal überwinden; ihr Pferd müssen sie nicht zwingend auf den Hof des Vereins in Norderbrarup im ländlichen Schleswig-Holstein fahren, sondern sie können das Tier auch ungesehen auf eine abgelegene Weide in der Region unweit der Flensburger Förde stellen. Wegen der Möglichkeit der anonymen Abgabe heißt der Verein, der in diesen Notlagen hilft, „Pferdeklappe e. V.“. Gründerin Petra Teegen, die sich schon während ihrer Berufstätigkeit als Krankenschwester und jetzt im Ruhestand weiterhin für den Schutz von Pferden engagiert, hat im vergangenen Jahrzehnt Nachahmer in ganz Deutschland gefunden. Ihr Verein nennt sich inzwischen auch „Deutschlands erste Pferdeklappe“, um von diesen weiteren, ähnlichen Einrichtungen unterschieden werden zu können.

Die „erste Pferdeklappe“ ist nicht nur Anlaufstelle für Pferdehalter in Notlagen und Zufluchtsort für Pferde, die niemanden mehr haben, der sie noch angemessen betreuen könnte. Der dahinter stehende Verein ist in den vergangenen zehn Jahren auch immer mehr zu einem zentralen Ansprechpartner in Deutschland geworden, wenn es darum geht zu beleuchten, wie es um die „Pferdeszene“ steht. Denn die Ehrenamtlichen um Petra Teegen, die 2021 für ihr Engagement in der Pferdeklappe mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet wurde, haben ihr Ohr ganz dicht am Puls der Zeit, was Pferde und ihre Besitzer angeht. Für vetline.de berichtet Petra Teegen im Interview über die Nöte von Pferdehaltern im Inflationsjahr 2022, über die Überforderung von Menschen, die vom Großvater eine Pferdeherde erben, über geglückte Vermittlungen und über die Kooperation mit Tierärzten in ganz Deutschland – ohne die ihr Verein seine Vermittlungsarbeit nicht so erfolgreich leisten könnte.

Frau Teegen, im Jahr 2023 wird die von Ihnen gegründete erste Pferdeklappe Deutschlands zehn Jahre alt…

Petra Teegen: Ja, das muss man sich mal vorstellen: dass all das nach zehn Jahren so groß geworden ist. Gut 1.700 Pferde sind seit der Gründung durch unsere Hände gegangen, mehr als 200 allein im Jahr 2022.

Die Medienberichterstattung über die Pferdeklappe hat vermutlich auch vielen Menschen noch einmal klargemacht, wie schnell man durch den Besitz eines Pferdes mit allen laufenden Kosten in finanzielle Bedrängnis kommen kann. Machen Sie auch heute noch häufig die Erfahrung, dass viele Leute sich die Anschaffung eines Pferdes nicht richtig überlegt und sich finanziell übernommen haben?

Teegen: Manche Dinge kann man nicht planen. Wie sollen die Leute im Voraus berechnen, dass sie mit 50 schon dement sind oder sterben? Gerade eben habe ich fünf Pferde zur Vermittlung auf unserer Facebookseite eingestellt, eine der Besitzerinnen hat multiple Sklerose und kann ihr Pferd nicht mehr versorgen. Entschuldigen Sie, ich drücke hier einen Anruf nach dem anderen weg. Auf Facebook hatte ich eigentlich geschrieben, dass Interessenten erst ab 15 Uhr anrufen sollen.

Bekommen Sie immer so viele Anrufe, wenn Sie wieder Pferde nach einer ersten tierärztlichen Untersuchung zur Vermittlung freigeben?

Teegen: Ja. Jedes Pferd bekommt zwischen 30 und 100 Anrufe.

Wie erklären Sie sich diesen Andrang?

Teegen: Zum einen legen wir immer alle Diagnosen offen, schon in den Posts auf Facebook und unserer Website. Wir sagen: Egal was, wir schreiben es dazu. Wenn die Händler das auch mal machen würden, dann wäre so viel Streit aus der Welt. Und zum anderen: Wenn es gar nicht geht, dürfen die Pferde zu uns zurückkehren. Die neuen Besitzer haben durch uns also viel Sicherheit im Rücken.

Wie stellen Sie sicher, dass es den Pferden nach der Vermittlung gut geht?

Teegen: Ein erstes eigenes Pferd für jemanden, der kaum Pferdeerfahrung hat – das gibt es ohne Weiteres bei uns nicht. Solche Neulinge müssen das Pferd in einen Reitstall stellen, der einen Blick auf die Entwicklung des Pferdes hat und der einen Tierarzt für uns als Ansprechpartner benennen kann. In jedem Fall müssen die neuen Besitzer ihren Tierarzt von der Schweigepflicht uns gegenüber entbinden. Wir lassen uns von den neuen Besitzern alle vier Wochen neue Fotos von den Pferden schicken. Wenn die nicht kommen, rufe ich den Tierarzt an. Dann fährt er in dem Stall vorbei, überprüft das Pferd und schickt uns für die Kontrolle eine Rechnung. Wir arbeiten mit Tierärzten in ganz Deutschland zusammen, den Tierärzten vertrauen wir.

Wir sind auch schon von Tierärzten alarmiert worden und haben dann das Pferd zurückgeholt. Ein Pferd zurückzuholen, dafür haben wir uns bei gut 1.700 Pferden insgesamt nur zehnmal entscheiden müssen. Weitere 15 Male waren die die Leute überfordert und haben die Pferde selbst zu uns zurückgebracht. Alle unsere Pferde werden in ihrem Equidenpass zudem als „Nicht-Schlachtpferd“ deklariert und bekommen zusätzlich einen offiziellen Pferdeklappen-Stempel von uns auf die letzte Seite des Passes. So wird deutlich, dass die Pferde im Fall eines Verkaufes, den die neuen Besitzer nicht hätten tätigen dürfen, zu uns zurückgebracht werden müssen. Viele Pferdeleute, die uns kennen, wissen das inzwischen und schauen die Pässe immer als Erstes von hinten an. Die Pferde dürfen erst nach Ablauf des Vertrages mit uns weitergegeben werden. Die Besitzer sind außerdem verpflichtet, uns jeden Umzug anzugeben, damit wir wissen, wo unsere Tiere sind.

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Wenn man Ihre Website ansieht, dann fällt auf, dass viele Pferde, die Sie vermitteln, Lungenerkrankungen haben. Bei den meisten schreiben Sie dann aber dazu, dass es dem Pferd nach kurzer Zeit bei Ihnen in Nähe zum Meer besser geht. Erhoffen sich viele Menschen, die Pferde bei ihnen abgeben, vor allem Seeklima?

Teegen: Ja, viele setzen auf das Seeklima. Aber vor allem erhoffen sie sich auch endlich richtig gute medizinische Versorgung, weil sie den Tierarzt nicht mehr bezahlen können. Unter den fünf Pferden, die ich gerade eingestellt habe, ist beispielsweise ein tolles Sportpony, das richtig schlimm bei uns ankam, mit einer Atemfrequenz von 60. Wenn der bei uns ist, zwölf Kilometer von der See, dann geht es ihm gut. Wir haben aber auch einen Inhalationsraum, der ihm sehr geholfen hat. Er atmet jetzt normal.

Auf Ihrer Website schreiben Sie, dass Sie aufgrund des Tierschutzgesetzes keine schwer erkrankten Pferde aufnehmen dürfen. Wo verlaufen die Grenzen?

Teegen: Die Pferde, die zu uns kommen, müssen nach Vorgabe des Tierschutzgesetzes vermittelbar sein.  Schwere Tumoren, das Hufbein schaut schon aus der Strahlsohle: Solche Fälle dürften wir nicht mehr zur Vermittlung annehmen, weil es verboten ist, ein gebrechliches Tier zu einem anderen Zweck als zur unverzüglichen schmerzlosen Tötung zu veräußern oder zu erwerben. Manche Leute versuchen allerdings, ihre Pferde bei uns abzugeben, weil sie es emotional nicht schaffen, das Tier einschläfern zu lassen. Wir vertreten die Meinung, dass die Leute diese Frage mit ihrem Tierarzt klären sollten. In diesem Jahr mussten wir drei Pferde, die abgegeben wurden, einschläfern lassen. Wenn wir in solchen Fällen selbst Zweifel haben, ziehen wir den Amtstierarzt hinzu.

Bei den fünf gerade eingetroffenen Pferden sind aber auch einige recht junge und völlig gesunde dabei.

Teegen: Wir bekommen auch völlig gesunde Pferde jeden Alters, vom Fohlen an. Bei den fünf aktuellen Fällen wurde ein Pferd abgegeben, weil die Besitzerin dringend ins Krankenhaus musste wegen einer OP. Ein weiteres Pferd, eine neunjährige Holsteinerstute, und ein Pony wurden aus finanziellen Gründen abgegeben. Die Besitzerin der Holsteinerstute ist schwanger mit dem zweiten Kind und hat gar kein Geld. Die Zähne und die Hufe des Pferdes sind ewig nicht gemacht worden, an den Zähnen waren ausgeprägte Haken. Zwei weitere der gerade zur Vermittlung freigegebenen Tiere hatten Asthma. Aber die Holsteinerstute beispielsweise ist eigentlich völlig gesund, die hat gar nichts. Man hätte nur mal den Schmied und den Tierarzt für die Zähne rufen müssen. Das haben wir gemacht. Wegen eines ungleichmäßigen Wachstums der Hufe war die Muskulatur ganz schief ausgebildet. Jetzt steht die Stute gerade und läuft ordentlich und taktrein. Sie war vorher auch unwirsch und jetzt ist sie ganz freundlich. Ich habe bestimmt schon 40 Anrufe allein wegen ihr bekommen.

Haben Sie im Jahr 2022 häufiger als früher den Fall, dass mit der Konsultation eines Tierarztes aufgrund finanzieller Schwierigkeiten lange gewartet wird und die Pferde dann stattdessen bei Ihnen abgegeben werden?

Teegen: Wir hatten im Jahr 2022 schon im Verlauf des Oktobers die Zahl von Pferden, die im Vorjahr abgegeben worden waren, erreicht, nämlich 181. In den vergangenen acht Wochen seitdem sind dann noch einmal 41 Pferde abgegeben worden; 23 davon, also mehr als die Hälfte, weil es finanziell einfach nicht weiterging. Die Pferde hatten nur leichte Befunde, aber die Besitzer hätten nicht einmal die tierärztliche Behandlung dieser leichten Befunde bezahlen können. Bei 12 dieser zuletzt abgegebenen Pferde hatten wir den Fall, dass die Besitzer verstorben sind und die Erben die Pferde nicht übernehmen konnten, teilweise auch aus finanziellen Gründen. Da wurden beispielsweise drei Großpferde an eine Familie mit sechs Kindern, die von Sozialhilfe lebt, vererbt.

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Aus welchen Regionen werden Ihnen Pferde gebracht?

Teegen: Aus ganz Deutschland, Ost, West, ganz egal. In den vergangenen Monaten kamen Pferde von Rügen, aus Koblenz, von der niederländischen und der österreichischen Grenze.  Nur zehn Pferde wurden anonym auf die Weide gestellt, die anderen sind alle hier oben am Hof abgegeben worden.

Wie blicken Sie auf das Neue Jahr 2023?

Teegen: Hoffnungsvoll. Und zuversichtlich. Und voller gespannter Erwartungen, wie vielen Pferden wir in diesem Jahr helfen können. Schon im Jahr 2022 hat sich für uns herauskristallisiert: Man darf den Mut nicht verlieren und sollte immer weitermachen, auch wenn immer neue Aufgaben hinzukommen.

Wer der Pferdeklappe e.V. helfen will, findet auf der Website des Vereins einen Überblick über Möglichkeiten, die Arbeit zu unterstützen.

Auf vetline.de werden wir weiter in loser Folge über die Folgen der Wirtschaftskrise für die Haustierhaltung und über Armutsforschung, die sich auf Tiere und ihre Halter bezieht, berichten.

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Coronakrise

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Das Computerprogramm berechnet die Anfahrtswege der Tierhalter so, dass natürliche Hindernisse – wie hier der Nord-Ostsee-Kanal – nicht umfahren werden müssen.
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Notdienstkrise

„Bagatellfälle werden weniger“

Tierärzte in Schleswig-Holstein entwickelten ein neues System für den Kleintiernotdienst und erprobten es ein Jahr lang im Alltag. Dr. Angelika Drensler aus Elmshorn berichtet im Interview über kurze Nächte, zufriedene Patientenbesitzer und konstruktive Debatten unter Kollegen.

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Mehr Zulauf seit diesem Jahr: Bei der Futterhilfe Münster e.V. können bedürftige Tierhalter sich Futter für ihre Tiere abholen. Ermöglicht wird diese Hilfe durch Spenden.
Foto: Christina Hucklenbroich

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Wirtschaftskrise

Zerreißprobe für die Pferdehaltung

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