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Kleiner Hund, große Tafel Schokolade: Jetzt ist der tierärztliche Notdienst gefragt.
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Kleiner Hund, große Tafel Schokolade: Jetzt ist der tierärztliche Notdienst gefragt.

Notdienstkrise

Ein System unter Druck

Wessen Problem ist die Notdienstkrise – das der Tierärzte, der Tierhalter oder der gesamten Gesellschaft? Auf dem Podium der bpt-Fortbildung in Bielefeld wurde offen debattiert.

„Notfallpatient Notdienst?“ war die Podiumsdiskussion auf dem abendlichen Podium der Intensiv-Fortbildung des Bundesverbandes Praktizierender Tierärzte (bpt) in Bielefeld Ende April überschrieben – zunächst noch vorsichtig, mit Fragezeichen. Und auch Moderator Heiko Färber, Geschäftsführer des bpt, stellte einleitend eine Frage zur Notdienstdebatte in den Raum: „Ist die Fieberkurve immer noch ganz oben?“ Vorab: Ja, das ist sie, und die Diskussion in Bielefeld stellte das eindrucksvoll unter Beweis.

Nach einer knappen halben Stunde Diskussion auf dem Podium standen auch die Tierärztinnen und Tierärzte aus dem Publikum vor den Mikrofonen im Saal Schlange. Zuvor fanden die fünf Expertinnen und Experten auf dem Podium für die Situation klare Worte und benannten praxistaugliche Lösungen, ohne deren Schwächen zu verschweigen. Diskutantin Dr. Maren Püschel von der Kleintierklinik Wasbek etwa stellte das Notdienstkonzept in Schleswig-Holstein vor, das seit seiner Gründung vor einem guten Jahr deutschlandweit als Modell gilt. Und Podiumsgast Dr. Eva Rash organisiert den Notdienst im Landkreis Warendorf und bilanzierte in Bielefeld, die Notdienstsituation sei in der ostwestfälischen Region gut gelöst worden. Man sei unter den Kolleginnen und Kollegen durch die gemeinsame Lösungsfindung und Besprechung auch „zusammengerückt“.

Der Anreiz muss stimmen

Trotz solcher Positivbeispiele bleibt der Notdienst aber offenbar ein „Notfallpatient“, vor allem das Personal ist weiterhin knapp. Dr. Carsten Grußendorf vom Tiergesundheitszentrum Bramsche plädierte deshalb in Bielefeld dafür, dass in Zukunft der „Anreiz stimmen“ müsse. Grußendorf konkretisierte dabei, dass es sich um einen erheblichen finanziellen Anreiz handeln müsse – vor allem, um die Widrigkeiten zu kompensieren, die ein Notdienst mit sich bringe.


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Und diese Widrigkeiten sind zahlreich; in Bielefeld erhielten sie endlich einmal gesammelt eine Bühne. An erster Stelle steht wohl die Gefährdung, der die Berufsangehörigen in der Notdienstsituation ausgesetzt sind. Eine wachsende Angst vor aggressiven Übergriffen, die Tierärztinnen und Tierärzte während des Notdienstes erfahren, wurde in Bielefeld thematisiert. Berufsangehörige aus dem Publikum ergänzten hier, dass gerade die notwendige Kommunikation der im Notdienst erhöhten Preise Aggressionen gegen die Tierärzte, die diese Aufgabe übernehmen, mit sich bringe.

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Grußendorf reflektierte die Situation in seiner Einrichtung: Das, was bei vielen Mitarbeitern zur Resignation geführt habe, seien die abwertenden Google-Einträge von Patientenbesitzern nach dem Notdienst – auch eine Form der Aggression. Dementsprechend ist es nur nachvollziehbar, dass viele Praxen in ihren Stellenanzeigen damit werben, die Angestellten nicht zum Notdienst heranzuziehen. Podiumsgast Dr. Bodo Kröll aus Thüringen, Inhaber des Fachtierarzt-Zentrums für Kleintiere in Erfurt, kritisierte diese Entwicklung, räumte aber auch ein: Wenn keine Änderungen im Arbeitszeitgesetz und in den anderen Rahmenbedingungen geschaffen würden, dann werde das Kliniksterben weitergehen.

Sind dann „Nachtkliniken“ oder „Notdienstpraxen“ die Zukunft? Und: Würde man dafür überhaupt Mitarbeiter finden? Mit Sara Pfeifer aus Leipzig befand sich eine Tierärztin auf dem Podium, die genau diese Frage beantworten konnte. „Ja, man findet sie“, sagte Pfeifer, die gemeinsam mit einer Kollegin in diesem Jahr eine Notfallambulanz in Leipzig gründete, die nur nachts und am Wochenende Patienten versorgt.

Geringe Gehälter für Tierärzte sind weiterhin ein Hindernis

Sie hätten rasch ein Startteam zusammenstellen können, so Pfeifer. Das habe aber auch damit zu tun, dass die angestellten Tierärzte in ihrer Praxis „vernünftig“ bezahlt würden. Die Leipziger Tierärztin war es auch, die klare Größenordnungen nannte: In Universitätsstädten seien noch immer Gehälter von etwa 2.000 Euro Usus, in ihrer Notfallambulanz hingegen orientiere man sich am BaT (Bund angestellter Tierärzte). Der Verband hat eigene  Standards für Arbeitsverhältnisse und die damit verbundenen Gehälter erarbeitet.

Pfeifers offener Wortbeitrag deutet darauf hin, dass die These ihrer Mitdiskutanten zutrifft: Offenbar muss der Anreiz stimmen; die Lage in einer  Stadt mit tiermedizinischer Fakultät tut hier mit Sicherheit noch ein Übriges.

Abseits der Fakultäten sieht es allerdings ganz anders aus, auch das spiegelten die Beiträge aus dem Publikum: Man finde keine Tierärzte für offene Stellen, werde aber von Patienten „zubombardiert“, erklärte eine Praxisteilhaberin. Gerade die Emotionalität der Debatte in Bielefeld zeigte: Der Druck weicht nicht aus dem System – wohl auch, weil gerade nach der Pandemie mit ihrem Haustierboom die Gemengelage zunehmend unübersichtlich wird.

Ein gesamtgesellschaftliches Problem

Dass es sich bei der Notdienstkrise um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt, wurde auf dem Podium mehr als einmal in die Diskussion geworfen. Auch die Frage, wen dieses Problem überhaupt in erster Linie betrifft, wurde in den Raum gestellt. „Das Problem haben die Tierhalter“, lautete ein Beitrag aus dem Publikum – schließlich könne man, wenn man ein Auto habe, im Fall einer Panne auf der Autobahn auf den ADAC zählen, in dem man aber zunächst einmal Mitglied habe werden müssen; auch das Krankenversicherungssystem der Humanmedizin sei einen Vergleich wert.

Dieser Appell für strukturgebende neue Gesetze sowie Geld aus der öffentlichen Hand als Lösungsansätze für die Notdienstkrise erhielt viel spontanen Applaus. Die Argumentation mag aber für viele Tierärzte nicht vollständig schlüssig sein, schließlich erleben sie – und auch für diese offenen Einblicke bot Bielefeld ein Forum – gerade im Notdienst besonders deutlich, dass ein leidensfähiges Tier eben doch kein Auto ist.

Besorgnis und Betroffenheit

Eine angestellte Tierärztin aus dem Publikum, die regelmäßig Notdienste leistet, berichtete beispielsweise, sie habe inzwischen schon „sehr viele Fälle“ gehabt, in denen die Besitzer sich die Behandlung im Notdienst nicht mehr leisten konnten. Selbst das Einschläfern schwer kranker Tiere sei für die Halter teilweise nicht mehr zu finanzieren.

Die Besorgnis und Betroffenheit, mit denen solche Eindrücke am Saal-Mikro vorgetragen wurden, zeigten, dass die Tierärzte weit davon entfernt sind, das Problem ausschließlich bei einer anderen beteiligten Gruppe zu sehen: Sie empfinden sich weiterhin im Zentrum eines dynamischen Geschehens mit zunehmend kritischem Verlauf.

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