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bpt | Notdienstkrise

Den Dominoeffekt stoppen! Notdienst gehört zum Tierarztberuf

Die Bereitschaft gegenzusteuern ist da: „Notdienst gehört zum Tierarztberuf“. Das ist zumindest für die klare Mehrheit (92 Prozent) der Tierärzte und Tierärztinnen unstrittig, die auf dem bpt-Kongress 2021 über ein Umfragetool die digitale bpt-Diskussion begleitet haben und so das Stimmungsbild im Auditorium spiegelten.

Als ‚Pflicht‘ steht die Notdienstversorgung in den Heilberufegesetzen aller Bundesländer, NRW zieht gerade nach. Ethisch leitet sie sich aus der Musterberufsordnung und auch dem Ethikkodex der Tierärzteschaft ab. Persönlich ist sie für viele Teil des tierärztlichen Selbstverständnisses: „Als Berufsstand werden wir daran gemessen, wie wir mit Tieren in Notsituationen umgehen. Ich will meine Patienten gut versorgen“, sagt etwa bpt-Präsidiumsmitglied Dr. Bodo Kröll, selbst Tierklinikinhaber.

Warum sieht die Realität dann momentan anders aus? Binnen fünf Jahren sind die Zahl der Kleintierkliniken in Deutschland und damit auch das Rund-um-die-Uhr-Versorgungsangebot drastisch geschrumpft: von 154 auf 105 im Jahr 2020. In NRW stünden auch viele der verbliebenen Kliniken kurz davor, ihre Zulassung zurückzugeben, berichtet Andreas Bulgrin. Der Vizepräsident der Tierärztekammer Nordrhein hält auch fest: Wer einmal aus einem Notdienstring ausgestiegen ist, den könne man nur sehr schwer und mit viel persönlicher Überzeugungsarbeit zurückholen. „Das System kippt.“ Bulgrin sieht „einen Dominoeffekt, den wir stoppen müssen.“

Personalmangel und Ängste

Hauptgrund ist zu wenig Personal bei steigenden Patientenzahlen. Zigtausende Tierarztstellen sind nicht besetzt; oft ist schon tagsüber die Kapazitätsgrenze erreicht. Es gibt Praxen/Kliniken mit Aufnahmestop. Arbeiten Angestellte im Nachtdienst, fallen sie durch Ruhezeiten und Freizeitausgleich für den Tagdienst aus. Bodo Kröll nennt, ergänzend zur Arbeitsbelastung und Fragen der Work-Life-Balance, auch die Sorge von Tierärzten und Tierärztinnen, sich nachts allein mit aggressiven Tierbesitzern und -besitzerinnen auseinandersetzen zu müssen. Ein Kipppunkt sind dann schon einzelne Kündigungen. So war die Rückgabe der Klinikzulassung im Sommer 2021 für Mag. Eva Matthes, Geschäftsführerin der AniCura-Tierklinik Haslbach (bei Regensburg) „ein Schutzmechanismus für das Team“, bevor die Stimmung endgültig kippt und eine weitere Kündigungswelle auslöst.


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Der Tierarztnachwuchs sei aber durchaus bereit, Notdienst zu leisten, betont Kim Usko. „Allerdings nicht zu jedem Preis“, machte die Geschäftsführerin des Verbandes der Tiermedizinstudierenden (bvvd) deutlich. Es müsse für Angestellte sowohl einen finanziellen als auch einen Freizeitausgleich geben. In einer aktuellen Umfrage unter bvvd-Beteiligung haben aber 60 Prozent der angestellten Tierärzte und Tierärztinnen weder Nacht- noch Wochenendzuschläge erhalten – nicht nur ein rechtswidriger Zustand, sondern auch nicht bundeseinheitlich.

Notdienst-GOT: Geld ist da

Mit der seit Januar 2020 gültigen Notdienst-Gebührenordnung (GOT) sollten die Einnahmen im Notdienst eine angemessene Bezahlung ermöglichen. Abrechnungsvorgabe ist pro Notdienstbesuch eine 50 Euro-Pauschale plus die Behandlungspositionen in der Spanne vom mindestens 2- bis zum 4-fachen GOT-Satz. 98 Prozent der Umfrageteilnehmer und -teilnehmerinnen wenden diese höheren Notdienstsätze auch an. Dabei verzeichnete weder die Kammer Nordrhein ein erhöhtes Beschwerdeaufkommen, noch mussten die Praktiker in der Diskussionsrunde mit Kunden vermehrt über die Preise streiten.

Doch Geld allein ist nicht die Lösung. Weder für Angestellte noch Inhaber/innen. Es braucht kollegiale Strukturen. „Wenn es keine gemeinschaftlich organisierten Notdienstringe gibt, dann wird das alles nichts“, hält Dr. Bodo Kröll nüchtern fest. In Regensburg hat Dr. Anette Gürtler den Notdienstring neu aufgebaut, nachdem die Tierklinik Haslbach die 24/7-Versorgung aufgegeben hatte. Doch bislang kann er mangels Beteiligung nur eine Wochenendversorgung abdecken. Ob da mehr Druck und Sanktionen von Kammerseite nötig sind, darüber waren nicht nur die Diskutanten und das Auditorium gespalten: 51 % Ja zu 49 % Nein.

Notdienstringe intelligent gestalten

Um möglichst viele Standorte bzw. Tiermediziner und -medizinnerinnen zurück in die Notdienstversorgung zu holen, ist vor allem Flexibilität gefragt. Einigen selbständigen Praktikern und Praktikerinnen sind möglichst wenig Notdiensttage wichtig; Angestellte wollen und dürfen nur bestimmte Stundenzahlen am Stück arbeiten. Das macht Planung und Interessenausgleich komplex. Als Lösung werden Wochenenddienste gesplittet und selbst Nächte in Schichten aufgeteilt. Viel Hoffnung liegt dabei auf Softwaresystemen. Für „Gerechtigkeit“ sollen hinterlegte Punktemodelle sorgen, die Nachtdienstzeiten, Wochenend- und Feiertagsdienste unterschiedlich gewichten, manchmal auch die Zahl der Angestellten einer Praxis bei der Pflichtzeit berücksichtigen. Über Zugriffsberechtigungen können die Teilnehmer flexibel tauschen.

Je kleinteiliger die Notdienstzeiten abgedeckt sind, desto unübersichtlicher wird es für die Tierhalter und Tierhalterinnen, wenn man an der klassischen Veröffentlichung der diensthabenden Praxis festhält. Deshalb wird auch regional immer öfter nur eine Tierarztnotrufnummer kommuniziert. Darüber erreicht der Anrufer dann die nächstgelegene diensthabende Praxis oder wird an sie vermittelt. Ein Nebeneffekt: Tierhalter stehen nicht mehr unangekündigt vor der Tür, sondern müssen vorab Kontakt aufnehmen.

Thüringen mache seit zwei Jahren mit einem landesweiten zentralen Tierarztnotruf überwiegend gute Erfahrungen, berichtete Bodo Kröll. Ohne Förderung durch den Staat sei ein solches Modell aber nicht zu realisieren. Eine deutschlandweite zentrale Notdienststruktur hält er dagegen angesichts des Abstimmungsaufwandes nicht für realistisch. Für 64 Prozent der Zuhörer ist das dagegen ein möglicher Weg.

„Maximalversorger“ und „Vordergrundpraxen“

Ziel zentral organisierter Notdienststrukturen ist es, Patientenströme zu steuern. „Wir müssen zwingend die Maximalversorger, ob mit oder ohne Klinikstatus, für den Notdienst erhalten,“ stellt Klinikinhaber Kröll klar. Sie dürften aber nicht mehr die erste Anlaufstelle sein und so überlastet werden.

Im Thüringer-Modell dürfen und sollen die Maximalversorger (auch mit Klinikstatus) nach 18 Uhr nur noch Patienten annehmen, die zuvor in einer „Vordergrundpraxis“ untersucht und als „echter Kliniknotfall“ überwiesen wurden – eine Form der Triage, also der Kategorisierung der Patienten. Bleibt so die (OP-)Versorgung schwerer Fälle gesichert, können auch wieder mehr kleine Praxen mit eingeschränkterem Leistungsangebot am Notdienst teilnehmen. Das wiederum reduziert die Zahl der Dienste für die Einzelnen.

Triage: Notdienstpatienten per Video-Doc filtern

Noch früher greift Telemedizin steuernd ein, egal ob durch externe Anbieter oder als praxis-/klinikinterne Lösung. Eine Ersteinschätzung vom Video-Doc, ob überhaupt ein Notfall vorliegt, könne verunsicherte Tierhalter und Tierhalterinnen beruhigen und so beiden Seiten unnötige Besuche ersparen. 83 Prozent der Zuhörer waren überzeugt, dass ein Video-Doc als Notdienstfilter funktionieren und so das System entlasten könnte.

Reine Nacht- und Notdienstkliniken

In Großbritannien nutzt deshalb auch der reine Nachtklinik-Anbieter VetsNow einen Video-Vet zur Triage. Der gebe den Tierhaltern Sicherheit, berichtete Nicki Daw, eine VetsNow-Direktorin. Auch finanziell, denn schon ein Besuch im Nachtdienst kostet mindestens 175 Euro, die Videokonsultation 30 Euro.

Das Besondere: Von den über 80 VetsNow-Standorten gehören nur drei der Gruppe selbst. Ansonsten mietet sie Räume und Medizintechnik über Nacht von gut ausgestatteten „Tagespraxen“ an. Das VetsNow-Team aus tierärztlichem und nichttierärztlichem Personal kommt dann mit eigener Kommunikationstechnik und eigenen Medikamenten in diese Praxen. Über 1.000 Tierarztpraxen in Großbritannien verweisen wiederum zu Notdienstzeiten auf diese Standorte. Durch die strikte Tag-/Nachttrennung sei die Rücküberweisung der Patienten gesichert. Die Praxen betrachteten das VetsNow-Angebot deshalb auch nicht als Konkurrenz, sagt Nicki Daw – auch wenn man inzwischen Teil der IVC-Evidensia-Gruppe sei. Ein solches Nachtklinik-Modell hielten dann auch 93 Prozent der Praxisinhaber und Praxisinhaberinnen im Publikum für einen möglichen Lösungsansatz.

Nachtdienst braucht flexiblere Arbeitszeiten

Angestellte für die Nachtarbeit zu finden, ist aber auch in Großbritannien eine ständige Aufgabe. Mehrheitlich wechseln die Tierärzte und Tierärztinnen nach etwa zwei Jahren auf andere Stellen. Arbeitszeiten, Verdienstmöglichkeiten und auch die fachlichen Herausforderungen sind aber für viele interessant. Die vertraglich maximal 40 Stunden pro Woche verteilen sich üblicherweise auf drei lange Nächte mit bis zu 14 Stunden bei vier freien Tagen. Etwa 12.000 Euro pro Jahr mehr verdiene man so im Vergleich zur klassischen Vollzeitarbeitswoche, sagt Daw. Von den angestellten Tierärzt und Tierärztinnen unter den Digitalkongress-Zuhörern wären 55 Prozent bereit, so zu arbeiten. Finanziell dürfte das Modell hierzulande für sie sogar noch deutlich attraktiver sein, denn das deutsche Arbeitsrecht schreibt für Nachtdienste unter der Woche einen 25-Prozent-Zuschlag vor, für Sonntagsarbeit sind es 50 und für Feiertage sogar 125 Prozent – steuerfrei.

Flexiblere Arbeitszeiten durch Betriebsvereinbarungen? Bei allen denkbaren Modelllösungen und Ideen ist eine Zweidrittel-Mehrheit (67 %) der Tierärzte und Tierärztinnen überzeugt: Zur Sicherung des Notdienstes muss es für Notdienstberufe eine Öffnungsklausel im Arbeitszeitgesetz (AZG) geben.

Doch auch wenn flexiblere Arbeitszeitregeln ein erklärtes Ziel der laufenden Koalitionsverhandlungen sind: Eine Verlagerung von Arbeitszeitvereinbarungen auf die einzelvertragliche Ebene wie bei VetsNow in UK, hält bpt-Juristin und Europarechtsexpertin Gabriele Moog bei einer SPD-geführten Regierung nicht für realistisch. Wenn, dann werde die neue Regierung den Unternehmen eher erlauben, flexiblere Arbeitszeiten über Betriebsvereinbarungen mit einem Betriebsrat auszuhandeln. Das wäre dann auch in Tierarztpraxen ab fünf Mitarbeitern möglich. Bisher braucht es einen Tarifvertrag, um von den AZG-Vorgaben abzuweichen. Doch weder die Tarifvertragslösung (19 %), noch der Weg der Betriebsvereinbarung (14 %) fand beim Publikum große Akzeptanz.

Wenn die Kreativität und das Stimmungsbild der Diskussionsveranstaltung die Realität abbilden, „dann bin ich jetzt ein wenig optimistischer, dass wir einen Weg aus der Notdienstkrise finden“, zog bpt-Präsident Dr. Siegfried Moder ein Fazit zum Kongressabschluss. Heiko Färber