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Foto: Franz Marc, Liegender Hund im Schnee; Städel Museum/bpk
Liegender Hund im Schnee. 1910/1911.

Berliner und Münchener Tierärztliche Wochenschrift

Editorial Themenheft Ethik

Das vorliegenden Themenheft Tiermedizinische Ethik bedeutet für das noch junge Forschungsfeld der Veterinärethik einen großen Schritt. Mit zehn Forschungsbeiträgen und einem Übersichtsartikel verfügt das Heft nicht nur über eine wissenschaftliche Ausrichtung, sondern ermöglicht auch allen, die an tiermedizinischer Ethik interessiert sind, sich ein Bild von den hier verhandelten Themen und Fragen zu machen und sich über die Lage des Faches im deutschsprachigen Raum zu informieren.

Von Kerstin Weich, Gasteditorin und Christa Thöne-Reineke

Der aktuelle Wertewandel in der Mensch-Tier-Beziehung, der die Zuspitzung der Widersprüche im Umgang mit Tieren in den letzten Jahrzehnten begleitet, stellt Tiermedizinerinnen und Tiermediziner in ihren jeweiligen Praxiskontexten vor neuartige Herausforderungen. Zugleich sieht sich die Profession vor die Aufgabe gestellt, auch in Zeiten des Umbruchs die Integrität zu wahren und gerade jetzt ihre Vorbildfunktion in der Gesellschaft proaktiv und fundiert wahrzunehmen. Selbstverständlich ist Ethik, als ein Teilbereich der Philosophie, krisenunabhängig, zugleich verwundert es nicht, dass gerade dann ein Ruf nach Ethik laut wird. Denn als angewandte Ethik, also als Veterinärethik, stellt sich hier, mit Mitteln von Analyse und Reflexion, die Aufgabe, praxisnah und kontextsensitiv zur moralischen Orientierung im tiermedizinischen Handeln beizutragen und ethische Kompetenzen aufzubauen. Im Sinne einer Professionsethik werden Konzepte und Methoden entwickelt, mit denen die Profession unter den Bedingungen von Wertewandel und Fortschritt, ihrer Verpflichtung zur ethischen Selbstregulation entsprechen kann.

Vor diesem Hintergrund setzt sich das Netzwerk Tiermedizinische Ethik für den Aufbau des interdisziplinären Forschungsgebiets „Ethik in der Tiermedizin“ im deutschsprachigen Raum ein. Es bietet eine Plattform, für all diejenigen, die bereits zur Veterinärethik forschen, hierzu Lehre anbieten oder Qualifikationen anstreben; oder sich einfach aus ihrer beruflichen Praxis heraus für veterinärethische Methoden und Konzepte interessieren. Auf diese Weise wird ein Raum geschaffen, in dem nicht nur Austausch und wechselseitige Unterstützung möglich werden, sondern auch gemeinsam und koordiniert an der inhaltlichen wie methodischen Profilierung des Forschungsfelds gearbeitet werden kann. In diesem Sinne setzt sich das Netzwerk Tiermedizinische Ethik dezidiert für die Erhöhung der Sichtbarkeit und für die weitere Institutionalisierung des Forschungsfeldes ein. Dazu beitragen sollen die Ausbildung disziplin- und speziesübergreifender Forschungskooperationen sowie eine vielfältige Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses.

Themenheft Tiermedizinische Ethik

Tiere halten, Tiere nutzen: Das Themenheft der Berliner und Münchener Tierärztlichen Wochenschrift beleuchtet das Thema Ethik in all seinen Facetten, die der tierärztliche Berufsstand mit sich bringt.
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Die Beiträge im vorliegenden Sonderheft gehen auf eine zweitägige Tagung zurück, die das Netzwerk Tiermedizinische Ethik im Januar 2019 am Fachbereich Veterinärmedizin der Freien Universität Berlin durchgeführt hat. Eine Vielzahl von Disziplinen und Praxiskontexten waren vertreten und die Gelegenheit zu Austausch und Vernetzung wurde lebhaft genutzt. Vor allem Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler haben die Möglichkeit genutzt, ihre Forschungsvorhaben zu präsentieren und zu diskutieren. In ihrer thematischen Breite – das Spektrum reicht vom Umgang mit aggressiven Hunden über die Belastungsbeurteilung im Tierversuch, Transparenz im Schlachthof bis zum Begriff von nicht-menschlichen Patienten – aber vor allem auch in der Vielfalt der disziplinären und methodischen Zugriffe zeichnen die vorliegenden Originalbeiträge ein repräsentatives Bild des Forschungsfeldes tiermedizinischer Ethik. Denn die ethische Reflexion auf die verschiedenen tiermedizinischen Handlungszusammenhänge und Wissensbestände sowie auf Rolle, Funktion und Wirkung der Tiermedizin in Gesellschaft und Kultur verlangen nach einer disziplinären Öffnung der traditionell naturwissenschaftlich orientierten Veterinärmedizin. Dabei stehen dem Zusammenspiel von Ethik und Tiermedizin nicht selten Fremdheitserfahrungen und Berührungsängste entgegen: Tierärztinnen und Tierärzte finden nur schwer Zugang zu Inhalten und Methoden tiermedizinischer Ethik oder werden marginalisiert, wenn sie sich für Forschung auf dem Feld engagieren. Angehörige der Geisteswissenschaften sehen sich einem Vorwurf von Unzugänglichkeit und/oder Beliebigkeit ausgesetzt. Der Forderung nach praktischer Verwertbarkeit theoretisch-geisteswissenschaftlicher Auseinandersetzung mit tierärztlicher Praxis entspricht ein gleichermaßen problematisches, hierarchisch strukturiertes Pädagogik-Verhältnis zwischen der „lehrenden Ethik“ und der „belehrten Tiermedizin“.

Die Herausforderungen, die sich ergeben, wenn unterschiedliche Wissenskulturen und damit verbundene Gewohnheiten im Ausdruck wie in der Lektüre aufeinandertreffen – zum Beispiel im Umgang mit Geschlechtlichkeit in der Sprache – haben auch die Erarbeitung von diesem Sonderheft geprägt und begleitet. Wir möchten uns an dieser Stelle herzlich bei den redaktionellen Mitarbeiterinnen bedanken, die den Anforderungen mit Geduld und Gesprächsbereitschaft begegnet sind.
Die Anforderungen interdisziplinären Arbeitens werden auch im Netzwerk Tiermedizinische Ethik ernst genommen. Es versucht, nicht nur eine leicht zugängliche und offene Plattform für all diejenigen zu bieten, die sich in ihrer Praxis oder Forschung mit tiermedizinischer Ethik auseinandersetzen, sondern sucht aktiv nach Wegen, um Barrieren zwischen den Geistes- und Sozialwissenschaften (Philosophie, Soziologie, Theologie) und der Tiermedizin sowie ihrer Grundlagenfächer abzubauen und Raum  für hierarchieferne, interdisziplinäre Kooperationen zu öffnen.

In vielen der vorliegenden Originalbeiträge spielen Lokalität und Situiertheit eine wichtige Rolle. Wie Tiermedizinerinnen und Tiermediziner handeln dürfen und sollen, das hängt nicht zuletzt von der jeweiligen nationalen Gesetzgebung ab, aber auch von moralischen Traditionen, kulturellen Prägungen und weiteren sozio-historischen Bedingtheiten. So erklärt sich auch die Ausrichtung des Netzwerks Tiermedizinische Ethik auf den deutschsprachigen Raum: es geht dabei um die Ausbildung von lokalen (nicht nationalen!) Stimmen, die sich durch Kontextsensibilität und Detailinformiertheit kennzeichnet. Das bildet zum einen eine Bedingung, keine Alternative, für eine konstruktive Beteiligung am internationalen Forschungsdiskurs, in dem die Veterinärethik langsam an Bedeutung gewinnt. Zugleich verweist die Kontextualisierung der Forschungsbeiträge auf einen grundlegenden Anspruch, den die Veterinärethik mit jeder angewandten Ethik teilt: den Anspruch auf Praxisrelevanz.

Die Überzeugung, dass Veterinärethik auf drängende Fragen und Konflikte, die sich für eine breite Öffentlichkeit im Umgang mit der Tiermedizin stellen, reagieren soll, prägt auch das Selbstverständnis im Netzwerk Tiermedizinische Ethik. So wurde im Rahmen der ersten Netzwerktagung unter dem Titel „Armes Häschen, bist Du krank?“ eine öffentliche Podiumsdiskussion organisiert. Der Einladung, im Tieranatomischen Theater in Berlin-Mitte mit Vertretern aus der tierärztlichen Praxis sowie der Veterinär- und Humanmedizinethik über die Herausforderungen im Umgang mit tierlichen Patienten zu diskutieren, sind viele Interessierte gefolgt. Dass Tiere in unserer Gesellschaft regelmäßig zu Patienten werden, ist eben nicht nur theoretisch relevant (und bis dato noch zu wenig untersucht), sondern führt auch – oft unverhofft – zu einer ganz praktischen Konfrontation mit veterinär­ethischen Themen. Wenn das Kaninchen nicht mehr fressen mag, wird das veterinärethische Problem, wie nachvollziehbar und transparent über Angemessenheit tiermedizinischer Therapien entschieden werden kann, konkret. Kann, darf, soll oder muss ich meinem Kaninchen eine Zahn-OP zumuten? Bei wem liegt die Entscheidungshoheit oder bei wem sollte sie liegen? Die Transkription der Podiumsdiskussion in dem vorliegenden Sonderheft bietet einen guten Einstieg in das weite ethische Problemfeld der tiermedizinischen kurativen Praxis und vermittelt zudem den zentralen Bezug tiermedizinischer Ethik zur Gesellschaft und Praxis.

Neben diesem Beitrag bietet das Sonderheft mit einem Übersichtsartikel zur Ethik in der veterinärmedizinischen Lehre einen weiteren Zusatz zu den Forschungsartikeln. Die Integration tiermedizinischer Ethik in Lehre und Forschung wird von den Dachverbänden wie der Federation of Veterinarian of Europe (FVE) oder der European Association of Establishments for Veterinary Education (EAEVE) seit längerem empfohlen. Die Verabschiedung des Ethik-Kodex der Tierärztinnen und Tierärzte Deutschlands steht auch in diesem Kontext. Doch eine Institutionalisierung veterinärmedizinischer Ethik wurde im deutschsprachigen Raum bisher nur vereinzelt vorgenommen, etwa an der Tierärztlichen Hochschule Hannover oder an der Veterinärmedizinischen Universität Wien, in Kooperation mit dem Messerli-Forschungsinstitut Wien. Der Übersichtsartikel informiert detailliert, in welchem Ausmaß und auf welche Weise unter diesen Bedingungen, die Ethik ihren Weg in das veterinärmedizinische Studium gefunden hat.

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Berliner und Münchener Tierärztliche Wochenschrift

Editorial Themenheft Coronaviren

Lesen Sie hier die einleitenden Worte des DVG-Präsidenten Prof. Dr. Dr. h.c. Martin Kramer zum aktuellen Themenheft der Berliner und Münchener Tierärztlichen Wochenschrift.

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Foto: Franz Marc, Liegender Hund im Schnee; Städel Museum/bpk

Berliner und Münchener Tierärztliche Wochenschrift

Themenheft Tiermedizinische Ethik

Tiere halten, Tiere nutzen: Das Themenheft der Berliner und Münchener Tierärztlichen Wochenschrift beleuchtet das Thema Ethik in all seinen Facetten, die der tierärztliche Berufsstand mit sich bringt.

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Erfolgreiche Online-Tagung

Thementage Katze erstmals virtuell

Im September fanden die diesjährigen Thementage Katze sowohl für Tierärzte als auch für Tiermedizinische Fachangestellte komplett online statt – eine Neuerung für Referenten, Moderatoren und Teilnehmende, die insgesamt mit Bravour gemeistert wurde!